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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 69

– LXIX –

In letzter Zeit erzählt Rudolf mir mehr als jemals zuvor von sich, und er sagt auch ungefragt, was ihn dazu bewegt: „Weißt Du, vielleicht muß ich mich beeilen, schließlich werde ich jetzt siebzig. Die Großväter habe ich dann schon überrundet. Man weiß doch nie, wann es einen erwischt.“ Den Hinweis auf seinen Vater will er nicht gelten lassen, obgleich der fast vierundachtzig Jahre alt geworden war. Mir soll dieser momentane Erzähleifer nur recht sein, auch wenn ich manchmal mit dem Aufschreiben, wenn er wieder weg ist, gar nicht mehr mitkomme. Diese Notizen sollen zu seinem Siebzigsten schön gebunden auf dem Geburtstagstisch liegen, als Beweis gegen seine so leichthin geäußerte These, sein Leben gehöre zur Kategorie „Fallhöhe Null“ und gebe nichts her.

Wenn er nicht im letzten Dezember zufällig im Fernsehen diese Pfarrerin Elisabeth mit ihrem Wort zum Sonntag gesehen, gehört und angerufen hätte, wer weiß, ob er mir jemals die Fülle dieser Einzelheiten anvertraut haben würde, denn am Stammtisch, freitags nach dem Singen, – wir proben jede Woche einmal – gibt er immer nur die Bruchstücke preis, die sich aus Anlaß der sprunghaft wechselnden Gesprächsthemen gerade so ergeben und einfügen lassen in das allgemeine Palaver. Zu den eifrigsten Erzählern gehört er in dieser Runde keineswegs. Durch seine fixe Idee, er könnte dieser Pfarrerin sein Leben erzählen, hat sich diese Erinnerungslawine in ihm mit Macht gelöst und geht nun zu Tal. „Sie hat so schön zugehört am Telefon; und sie hatte eine so zu Herzen gehende, einladende Stimme“, schwärmt er jedesmal, wenn er mich besucht und dann bei mir ins Erzählen kommt. Er glaubt wie ein Kind immer noch, sie habe in ihrem Beruf so schrecklich viel zu tun, werde sich aber, wenn es einmal ihre Zeit zuläßt, doch noch bei ihm melden. Auf seinen spontanen ersten Brief – er hatte ihr zum Dank für das ihn so erlösende Telefongespräch auch ein kleines Büchlein geschickt – bekam er ja von ihr eine fromme Weihnachtspostkarte in einem Umschlag. Prompt hat er ihr noch einmal geschrieben und ihr sogar einige von seinen Gedichten geschickt, sorgfältig ausgesucht, damit sie auch zu ihr passen mögen. Bis heute wartet er nun auf eine Antwort darauf. Wer weiß, wie viele Briefe und Karten und Anrufe diese Frau bekommt, wenn sie im Fernsehen gepredigt hat. Da hätte sie viel zu tun, wenn sie allen antworten wollte. Vor kurzen habe ich selber eine Elisabeth das Wort zum Sonntag sprechen sehen, sie blenden doch immer zum Schluß kurz den Namen ein, weiß aber nicht, ob dies dieselbe Elisa war, denn den Nachnamen will Rudolf nicht preisgeben. Diese Frau sprach diesmal – wenn sie es denn war – aus Anlaß des schrecklichen Unglücks, das niemanden wegen der schockierenden Bilder unberührt lassen konnte. (Mein Gott, sie sollten so etwas nicht zeigen; aus allem Unglück machen sie im Fernsehen heuchlerisch unter dem Vorwand der Informationspflicht so leichthin ihr falsch verstandenes reality television). Diese Elisabeth hat aber, das muß man sagen, diesem schier unmenschlichen Ereignisdruck vor der Kamera auf beeindruckende Weise standgehalten. Es sind am Ende wohl doch immer wieder die Frauen, die dem Entsetzen des Lebens halbwegs gewachsen sind.

Vor gut einer Stunde war Rudolf hier und hat mit geheimnisvollem Gesicht ein Schüsselchen Johannisbeeren gebracht, „selbst gepflückt“. Ich mache mir zwar nicht allzu viel aus diesen roten und weißen Säuerlingen, man weiß nie recht, wie man sie ohne Massen an Zucker essen soll. Doch Rudolfs bedeutungsvolles Getue ließ auf die Fortsetzung seiner Geschichte hoffen, und kränken wollte ich ihn auf keinen Fall, ist er doch der Mensch von den im Grunde fremden, der mir tatsächlich durch sein Wesen und durch das mir dargebrachte Vertrauen ziemlich nahesteht. „Weißt Du, daß diese Beeren der kräftigste Auslöser für mich sind, um durch ihren Anblick, durch ihren Geruch und ihren Geschmack das Bild des Gartens meiner Großmutter unwiderstehlich und mit wünschenswerten Deutlichkeit in mir wachrufen? Er schwieg versonnen, schaute gedankenvoll wohl wieder aus dem Verandafenster des Wohnzimmers in der Kohlisstraße hinaus, über die Terrasse hinweg, den halbmeterhohen Absatz hinunter ins sommerliche Farbenspiel aus viel Grün und Rot und Gelb und Blau und Weiß. Rechts stand die stolze Reihe der sorgfältig hochgebundenen und beschnittenen Stachelbeer- und Johannisbeersträucher. Ungestraft durfte man im Vorbeigehen welche Pflücken, um sie zu kosten. Als Willy, der beeindruckende Erzeuger-Pappa-Papaa mit Frau und bezauberndem Kind wieder abgereist war, hatte er zweierlei hinterlassen und einiges Mitgenommen, solcherart eine reale Lücke erzeugend. Er hatte nämlich mit seinem unwiderstehlichen Charme seine Mutter beschwatzt, ihm doch die Kommode aus dem Eßzimmer und die beiden Vitrinen, die rechts und links die Anrichte flankierten, für seine eigene Einrichtung in Wiesbaden zu überlassen. Die Anrichte sei doch mit den beiden verglasten Schränken auf beiden Seiten viel zu wuchtig und nicht mehr zeitgemäß. Bei ihm sollten die Vitrinen, nebeneinandergestellt, einen geschmackvollen Bücherschrank abgeben. Die Großmutter, wie nicht anders zu erwarten, stimmte zu und schien noch froh zu sein, dem Sohn eine Freude zu bereiten. Um objektiv zu sein, gab Rudolf unumwunden vor sich selber zu, die Anrichte sah so verkleinert tatsächlich viel ansprechender aus.

Soviel zu den hinterlassenen Lücken. Doch beim hinterlassenen Zweierlei handelte es sich um anderes, um nichts Greifbares, gleichwohl wog es in Rudolfs Gedankenhaushalt ziemlich schwer, zumindest eines davon. Willy hatte
das Pappa-Papaa-Gestottere mit dem kurzen Satz weggewischt: „Nenn mich doch einfach und gut deutsch Vater.“ Nun gut, man gewöhnt sich an alles. Schwerwiegender war die unerwartete Frage, mit der er seinen ihm doch völlig unbekannten und unvertrauten Sohn konfrontierte: „Sag mal, hast du schon mit Frauen geschlafen?“

Bei Regen war er gekommen, bei Schnee wieder abgereist. Die abgeschwatzten Möbel hatte er umgehend durch einen Bekannten abholen lassen, der zusichern konnte, weil er mit den Russen und den Alliierten kungelte, sie wohlbehalten nach Wiesbaden zu bringen. Zonengrenze hin, Interzonenabkommen her, wo ein Willy ist, da auch ein Weg.

Rudolf schaute hinaus ins wirbelnde, wallende, wogende Weiß. Der turbulente Wind machte es den Flocken schwer, vom Himmel auf die Erde zu gelangen. Doch man konnte es am sich langsam bedeckenden Boden absehen: Die Schwerkraft bleibt in dieser Welt am Ende doch der Sieger. Rudolfs Gedanken wirbelten ähnlich ruhelos und zielverloren durcheinander. Mit Frauen geschlafen! Warum gleich dieser Plural? Halbwegs keß und möglichst flott hatte er geantwortet: „Klar, beim Militär“, aber den richtigen Ton dafür hatte er offensichtlich nicht getroffen, das hörte sein wacher Verstand sofort selber heraus. Der ruppige Frager ließ dann doch überraschenden Takt walten und seine Hammerfrage auf sich beruhen. Sein Teil wird er sich gedacht haben.

Die Erwachsenen spielen bei der Erziehung ihres Nachwuchses unhaltbar lange den keuschen Josef, bestehen nachdrücklich auf dem Klapperstorch, erklären einem reineweg gar nichts, und hopdipop verhalten sie sich so, als gehöre man schon zum Klub. Die Kinder kommen aus dem Mund, hatte die Frau Pohlmann aus der Lichtenberger Straße ohne rot zu werden ihm, dem Neunjährigen Frager, erklärt, als sie an seinen Fragen spürte, mit dem Storch sei es nicht mehr getan. Mit dieser Weisheit hatte er sich dann auf der Straße, als er mitreden wollte, den denkbar vernichtendsten Auslacher seiner zarten Jugendjahre eingehandelt, was eine tiefe Vertrauenskrise gegenüber allen Älteren auslöste. Mit dreizehn schaute er dumm aus der Wäsche, als der Werner aus Nummer zwei mit seinem Mädchen – man war zu dritt auf dem Weg ins Kino – in der Straußberger Straße mal kurz hinter einer Haustüre verschwand und postwendend, geradezu fluchtartig mit ihr wieder herauskam, er sichtlich verlegen und sie mit einem hochroten Kopf. Hinter den beiden ein polternder Hauswart: „Raus hier, wir sind doch hier kein Phosenhaus!“ Er wagte nicht zu fragen, schon des Mädchens wegen nicht, fragte jetzt nicht und auch später keinen, selber tastend kombinierend und sich das plausible Gedankenergebnis zurechtrechnend, welche Sorte Haus gemeint gewesen sein könnte. Wie hieß die oft zitierte Straße hinter dem Alex? Lassen wir das. Werner und sein Mädchen – Werner war ein Jahr älter als Rudolf – „die gehen miteinander“, hieß es lakonisch. Gut, so viel war deutlich, nur „gehen“ werden sie wohl nicht. Etwas später hieß es: „Die haben was miteinander“, und man fragte sich, aus dem Gedankennebel ins Helle des Verstehenkönnens strebend, was genau sie denn nun miteinander hätten. Der gängige und für die Verständigung unter männlichen Gesprächsteilnehmern erforderliche und – naturgemäß? – doch ziemlich ruppige Sprachschatz wurde nun beim Militär tatsächlich mit brutaler Eindeutigkeit vervollständigt und auf den neuesten Stand gebracht, sofern es auf diesem Tummelplatz der artikulierten Zumutungen überhaupt – seit der Steinzeit oder gar seit der Einführung des aufrechten Gangs – neues geben konnte.

Zwischen den unfreiwilligen Aufenthalten in Bad Ischl und der Salzburger Kaserne hatte es noch drei oder vier Tage auf einer blanken Wiese am Rande eines Wäldchens in schönster österreichischer Landschaft gegeben, unmittelbar neben einem romantisch murmelnden Bach. Rudi und Rudolf, sie hatten ihr Viererzelt nun doch aufgebaut und zwei arme unbedeckte Landser großzügig mit aufgenommen, weil es ausnahmsweise in diesem ersten schönen Friedensmai drei von diesen vier Tagen salzburgisch andauernd „“Schnürl“ regnete. Also lag man reglos im Zelt unter der pitschnassen Zeltbahn, sich sorgfältig hütend, die vollgesogene und dennoch überraschend dicht haltenden Stoffflächen nicht zu berühren, um unangenehmes Herabtropfen zu vermeiden. Thema eins war zwar das Essen, weil man Hunger hatte, doch die trostreichste Ablenkung, nachdem alle erdenklichen Kochzauberrezepte der jeweiligen Mütter oder Ehefrauen durchgehechelt worden waren, war dann eben Thema zwei. Der Unteroffizier Rudolf, den er Rudi nennen sollte, sein damaliger Ersatzvater, setzte trotz der angeblichen kommißbedingten Zuchtlosigkeit einfühlend voraus, er sei eben noch nicht bei einer Frau in die Lehre gegangen. Auch die zwei Untermieter im Zelt, die noch älter waren als der acht Jahre ältere Rudi, setzten ihm nicht mit dummen Sprüchen zu. Man sprach freimütig – nicht so freimütig wie Frauen untereinander, wie er spätestens bei Klangfilm lernte, – übers Vögeln. Man gab auch gute und weniger gute Ratschläge, dennoch ließen sich Rudis Unterweisungen zusammenfassen in die genau an einer Hand abzuzählenden Regeln: Sauberkeit, Geduld, Takt, Phantasie und Einfühlungsvermögen. Resümee: Es ist immer dasselbe, und doch jedesmal anders, und alles etwa Versäumte ließe sich mit etwas Glück in einer einzigen Nacht nachholen. Und Rudi setzte ohne Anklang von Spott noch einen oben drauf mit dem Bekenntnis: „Frauen machen irrsinnigen Spaß, doch Bücher sind bedeutend interessanter.“ Und da kommt dieser richtige Vater unbedarft-bedarft daher und sagt in einem Atemzug „Frauen“ im Plural und „geschlafen“. Wieviel Bücher und welche er schon gelesen habe, das fragt er ihn nicht (dieser von sich eingenommene und eingebildete „Heini!“) Eigentlich, denkt sich Rudolf, eigentlich kann er mir gestohlen bleiben. Jeder zappelt schließlich im eigenen Gedanken-Erfahrungs-Kombinations-Netz. Der Kerl kommt daher, stellt freche, taktlose Fragen, ohne die geringste gesprochene Anwärmzeit, setzt Vertrauensfrüchte voraus, ohne gesät und gepflanzt zu haben. Der kennt doch in meinem Netz die Maschen gar nicht. Was weiß der vom tiefen Blick am Orankesee? Er war doch nicht dabei, als der Neunjährige an einem brühheißen Sommertag, bekleidet nur mit einer Turnhose, mit dem Silberpfeil, einem Modellrennauto, am Bordstein spielend, plötzlich pinkeln muß. Der erhitzte Knabe geht absichtslos, wenn auch zielstrebig, aufs Treppenklo im zweiten Stock, sitzt gedankenverloren und wartet, ob noch etwas zu erledigen sei, nein, er schlenkert, bevor er seine Turnhose wieder hochzieht, den kleinen Piepel ab, damit der unvermeidliche Tropfen sich löse und später nicht in die Hose gehe, schaut genaugenommen zum allerersten Male richtig hin – Sonnenschein durchs schmale Klofenster, das angenehm warme Holz des breiten Klositzes, eingeschlossen und abgeschlossen von aller Aufdringlichkeit der Welt, brütende Mittagshitze des Fauns – er betrachtet sich diese vorn so komisch zusammengeschnurrte Vorhaut und denkt, was mag dahinter und darunter sein? Beim Wettpinkeln abends um acht auf der Straße, wenn alle Erwachsenen verschwunden und man mit seinen Keckheiten in der Clique allein war, drückte man vorne kräftig zu und versuchte, mit dem solcherart erhöhten Druck soweit als möglich im Bogen zu strahlen. Man wußte, da guckt nur ein Köpfchen raus, doch wie weit darf man denn an der natürlichen Verkleidung ziehen, bis etwas passiert? Der wahrhaft keusche Knabe dachte mit unbändigem Forscherdrang, mag mich der Teufel holen, jetzt will ich’s wissen! Er zog und zog und zog, und siehe da: statt der erwarteten, statt der befürchteten „offenen Wunde“ oder was sonst auch immer hätte geschehen können, es erwies sich alles als eine präzise, sorgfältige, geradezu verblüffende, wenn nicht gar geniale Konstruktion, die sich die Evolution da so vor sich variierend und probierend ausgedacht hatte. Er erkannte tief befriedigt, – ohne tatsächlich nach einer Befriedigung, von der ihm noch keineswegs etwas schwante, zu streben – auf die große Mutter Natur ist eben Verlaß. Die belügt einen nicht. Und dieser Vater kommt daher … Er war doch auch zwei Jahre später nicht dabei, an diesem Sonntag vor dem großen Spiegel in der Stube beim Anziehen der wöchentlich zu wechselnden neuen Unterwäsche. Die Sommerstunde auf dem Klo im Gedächtnis, signalisierte der Körper urplötzlich in klarer, eindeutiger und dennoch völlig undurchschaubarer Sprache: Nicht nur zurück, mein Lieber, nein, mit edler Neugier („Zwar weiß ich viel …) hin und her und … schneller bitte, noch schneller … was ist das denn? Wie soll man dabei aufhören wollen? Herrgott ist das schön! Ach du meine Güte, was soll das denn nun? Wenn jetzt einer reinkommt, Oma und Opa sitzen beim zweiten Frühstück in der Küche, dann stehste ganz schön bekleckert da. Der schöne Spiegel, wie der aussieht, einmal und nie wieder.

Und wer vermöchte sich ohne gemischte Gefühle an den Kuß im Splittergraben im Bombenhagel erinnern, eine Situation, die für andere, die man kannte, tödlich ausging, obwohl das Küssen und die Bomben nun absolut nichts miteinander zu tun hatten. Profanitätsekel wegen der „Pariser“-Flaxerei des grobklötzigen Haupttruppführers beim RAD. Die widerlichen Stubengenossen, die besoffen mit beschmierten und rot geränderten Hosenschlitzen vom Ausgangsausflug in die Kaserne in Unna zurückkehrten. Das Leben hat gewiß üble Seiten, aber selber übel ist es mit Gewißheit nicht. Wie liebevoll besorgt und bekümmert waren die Zeichnermädchen aus der Lehrwerkstatt, als Rudolf sich etwas beklommen zu den Preußen hin verabschiedete. Wie betoniert im unangezweifelten gegenseitigen Vertrauen war die nächtliche Fahrt mit dem weiblichen Schutzengel im Bremserhäuschen des Güterzuges von Dessau nach Berlin. Und welch milde Wärme und Geborgenheit, gegenseitige Anregung, Frage- und Antwortfreudigkeit, gemeinsames Schweigen im Wortreichtum der Sprache und im Klangreichtum der Musik hat das Biedermeierzimmer erlebt. Die Biedermeierfee war eine richtige, leibhaftige Frau, zurückgehalten nicht nur von ihrem Altersvorsprung, gewiß auch immer zögernd durch den Nachhall der miterlebten Erschütterungen bei der Ankunft des Verhängnisses, das unsere gemeinsame Heimatstadt mindestens zehn Tage lang überflutete. Die Götter werden wissen, was sie sich manchmal gewünscht haben mochte, doch sie hat sich nicht erlaubt, den zögernden Burschen zu bedrängen. Was sonst noch alles gehört als tragende Masche in dieses unzerreißbare Netz des persönlichen Geschicks. Verklemmt ist dieser Rudolf keineswegs, alles andere als so etwas. Er kann „schnurren“ mit der kleinen Elisabeth, er kann „fachsimpeln“ mit der weiblichen Konkurrenz im Abendseminar, er amüsiert sich „wie Bolle“ mit den heiß tanzenden Damen bei der Klangfilm-Weihnachtsfeier, und er genießt das Herzklopfen, wenn Fräulein Adler sich schnippisch in den Nahbereich wagt. Nur die Ruhe („und denn mit’nen Ruck“, pflegt seine Mutter zu sagen). Der Ruck wird näherrücken, das ist gewiß.

Rudolf schaute noch immer durch das Terrassenfenster hinaus, doch wohin? Was konnten seine Augen ans Gehirn melden? Der Wind hatte sich vollkommen gelegt. Kein Lüftchen rührte sich. Die Flocken waren kleiner geworden und dichter, gewiß war das Thermometer gefallen. Dort draußen war alles nur noch eine weiße Fläche. Langsam bewegten sich die Miniflöckchen in ungezählten parallelen Linien, dicht bei dicht, immer den allgegenwärtigen Schwerkraftlinien treulich folgend, langsam, ganz langsam von oben nach unten, vom oberen Fensterrand zum unteren Fensterrand, man sah es kaum noch, ahnte es mehr, als man es erkennen konnte, das Schulwissen sagte einem: sie fallen, fallen, fallen stetig, unaufhaltsam, ein Bild der Windstille, der optische Eindruck verlor die Fixierung, der Signalstrom ins Bewußtsein ebbte ab, weißes Nichts aus weißem Etwas, auf der Netzhaut alles umgekehrt, von unten nach oben, alles bedeutungslos, der Gartenraum in der weißen Fläche verschwunden, dimensionslos, koordinatenfrei, zeitloses Jetzt als bewußte Bewußtlosigkeit, wachendes Schlafen, Träumen ohne Halt, von Frauen, von der Liebe, von sich, vom Glück.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 68

– LXVIII –

Wann wird er kommen, der Langerwartete, der Kronensohn (wenn Großmutter hofft), der Mann aller Männer (wenn sich die Mutter erkundigt), der unersättliche Kostgänger seiner Mutter (wenn die Frau H. flüstert), der liebe Vati (wenn sein Sohn aus erster Ehe dazwischenredet), der Ist-mir-gleichgültig (wenn sich die nahebei wohnende Geschiedene zu Wort meldet), der interessante und bemerkenswerte Stelleninhaber (wenn die verwaltungserfahrene Amtsbibliothekarin in ihrem Biedermeierzimmer zu Geduld und Entgegenkommen rät), der Hat-eine-Chance-verdient (wenn der Stiefvater sich in die Lage des „Echten“ versetzt), der Freu-dich-doch-auf-den (wenn die kleine Elisabeth, die den Vater im Krieg verloren hat, morgens in der S-Bahn schnurrt), der noch immer ohne vertraute, von Innen kommende Anrede sich in Rudolfs schwankenden Gedanken apostrophieren lassen muß: Vater!, das geht nicht, so nennt er ja den Onkel Bruno seit dem gewissen Brief vom Eismeer; einfach kumpelhaft Willy!, so munter wagt er sich das unbekannte Verhältnis zu ihm keineswegs auszumalen; das jugendamtliche und amtsvormundschaftliche Erzeuger!, so papieren mag man ihn schriftlich und hinter seinem Rücken be-reden, aber an-reden?; mein Alter!, so kann man die Kollegen berichtsweise abspeisen, doch von Angesicht zu Angesicht?; dann eben quasi-vornehm PAPA!, doch der Kontext-Teufel steckt im Detail der verschiedenen möglichen Betonungen, in der Sprechmodulation, im Ausspracherhythmus, im Nachdruck, im Akzent: germanisch-berlinisch „Pappa“ oder welsch-korrekt „papaa“? (verdammt, wie sprechen denn die Franzosen?); am besten, er wäre schon wieder fort.

Seit Rudolf zur Tanzschule geht, – war Oma Wenzels Idee: „Junge, ich bezahl Dir den Kurs“ – erscheinen in seinen Tagträumen viel öfter als zuvor weibliche Gesichter mit fragenden, fragwürdigen, merkwürdigen, rätselhaften Augen. In der Tanzschule Behr am Alexanderplatz profanisieren sich derartige Gefühlsverwirrungen leicht dadurch, daß man den hexenäugigen Damen ungewollt und tölpelhaft im Zuge der unvertrauten Bewegungsabläufe auf ihre Füßchen tritt. Sie quittieren solche peinlichen Flegeleien entweder mit „Nun passen Sie doch auf!“, (wenn man sie nicht kennt), oder mit einem gehauchten Zischen: „Mensch paß doch uff, Du Ochse!“ (wenn man zur Klique gehört).

Der Brand im Kaufhaus Tietz, der Brand des UfA-Palastes, der Artilleriebeschuß beim Einmarsch, nichts hatte der altehrwürdigen Tanzschule Behr am Alex als Institution etwas anhaben können, nur ihren Fensterscheiben. Doch die waren inzwischen wieder eingesetzt. Geschäftsleute helfen sich untereinander, wenn sie nicht derselben Branche angehören. Das unscheinbare Haus, worin die Tanzschule im ersten Stock ihr Büro, den großen Saal und die nach Geschlechtern getrennten Garderoben hatte, stand wie eine vergessene Riesenschachtel inmitten der Trümmervierecke. Das zusammengestürzte Nebenhaus hatte die Brandmauer freigelegt, und dort, im obersten Teil stand in großen schwarzen Lettern der seit vielleicht zwei Generationen vergessene Schriftzug: TANZSCHULE BEHR. Wer vom S-Bahnhof her kam, schaute direkt drauf.

Tanzunterricht war für Rudolfs Anfängerkurs in den Standardtänzen am Samstagnachmittag um vier Uhr. Wenn die Damen aus der Garderobe kamen, mußte man staunen, wie bunt und pfiffig ihre Kleidchen waren. Den totalen Krieg mit seinen üblen Verboten und Einschränkungen ließen diese Kleider weit hinter sich zurück. Nüchtern und realistisch, wie er war oder wie er meinte, zu sein, fragte er sich verwundert und verblüfft, wie mühelos alle diese Mädchen das paradoxe Verhalten bewältigten: auf gleiche Weise gefallen zu wollen und dabei umgotteswillen mit keiner anderen konkurrierenderweise verwechselt zu werden. Sie taxierten offensichtlich und kühl die meistenteils unbeholfenen Jünglinge, die hier die Männerrolle zu üben übernommen hatten, doch vielmehr taxierten sie sich, bei allem heiteren Geplauder, unbestechlich untereinander: Schnitt, Rocklänge, lange oder kurze Ärmel, loser Gürtel oder enge Taille, Kragen oder Ausschnitt, Schuhe und Frisur, alles wurde gehandhabt wie bei einer Armee die Waffen. Die „Herren“ dagegen hatten nur zu beachten, die Minimalforderungen zu erfüllen, die vorrangig die Tanzschule selber vorschrieb, den viel schwerer einzuschätzenden Anforderungen der teilnehmenden Weiblichkeit sozusagen institutionaliert zuvorkommend: Oberhemd mit Krawatte, geputzte Schuhe und saubere Fingernägel. Dazu ein deutlicher Hauch von Seife; es durfte Kernseife sein.

Neben dem großzügig gewährten Geld für den Tanzkurs hatte die freundliche Großmutter noch eine kleine Klausel an ihren Schenkvertrag angefügt – umsonst ist der Tod, sagt der Volksmund – Rudolf mußte seine wenig vorteilhaft gebaute Cousine (Adoptivkind von Großmutters Schwester) als Kursbegleiterin akzeptieren und mit ihr gemeinsam in die Tanzstunde gehen. Er verstand sich gut mit ihr, man konnte gut mit ihr plaudern und über vieles reden, sie war klug und vorurteilsfrei, jedenfalls was Politik anbelangte, dogmatisch war sie nur, wenn sie über Astrologie referierte – Rudolf, der immanenzbesessene Skeptiker hielt sich da raus – doch sie war eben, ohne Liebe gesagt, ein Trampel, und sie war ein unvorteilhaft gekleideter Klotz am Bein eines jungen Mannes, der die verwirrenden Reize unbekannter Körperlichkeit ahnend zu schätzen versuchte. Rudolf hätte zu gern einmal Fräulein Adler nach Hause gebracht, doch die konnte spitz und vernichtend sagen: „Müssen Sie sich nicht um ihre hübsche Cousine kümmern?“

An manchen Tagen geht alles schief. Ein Unglück kommt selten allein und unverhofft kommt oft. An einem gewissen Samstag konnte die besagte Cousine nicht zum Tanzen erscheinen, eine Annäherung an Fräulein Adler rückte dadurch rasant in den Bereich des Möglichen, allerdings regnete es diesen Nachmittag so unverschämt heftig, man kam schon übel derangiert – nasser Mantel, nasse Hosenbeine – in der Garderobe an, und dann die Enttäuschung: Fräulein Adler war ebenfalls nicht erschienen. Das Eins-zwei-Wechsel beim Slow-Fox und das langgezogene Aaiins-zwei-drei beim langsamen Walzer wollte übler wenn auch undurchschaubarer Kausalität halber diesen Tag partout nicht klappen. So ging man etwas muffig gesonnen zum Bahnhof, natürlich fiel ein Zug aus, man fror im Durchzug der noch weitgehend unverglasten Bahnhofshalle am Alex, endlich der Zug nach Erkner, wer sitzt drin: Ein liebliches Mädchen, bekannt von der Abendschule, sie lächelt, man weiß, wie weit sie fahren muß, kurzes Nicken, man setzt sich neben sie, bloß jetzt keine Fachsimpelei, nein, sie hat gelesen, hat das Buch ja noch in der Hand, ein Buch ist immer gut, was ist es denn?, aha, Gedichte von Rilke, etwa der beliebte-beredete-berüchtigte Kornett?, nein, auch nicht das klagend-schwere „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?, mehr in der Richtung des munter sich drehenden Karussels mit dem „und ab und zu ein kleiner weißer Elephant“? Das kann ja heiter werden, wurde es aber nicht, denn „könnten wir nicht in Köpenick zusammen ins Kino gehen?“ scheiterte am „wir könnten, aber leider muß ich heute abend pünktlich zu Hause sein, bin eh schon zu spät dran“. Zum Glück und Trost folgte: „Kannst mich aber bis vor die Tür bringen, willste?“ Klar, solche Umwege können Geschenkcharakter haben, können, müssen aber nicht. Im Kontingenzraum der Zweigeschlechtlichkeit macht Gelegenheit zwar Diebe, doch Töchter haben Väter, und der ihre kam just in dem Moment zur Haustüre heraus, als Rudolf sicher war, sie hätte sich küssen lassen. Rilke als Seelenmasseur ist nicht zu unterschätzen, doch väterliches Mißtrauen eben auch nicht. Die beiden verabschiedeten sich unverrichteter Lieblichkeiten. Als Rudolf die drei Straßenbahnstationen am Hultschiner Damm zurückgelaufen und die Kohlisstraße etwas mißmutig entlanggetrottelt war, fand er zuerst den Schlüssel nicht, die Gartenpforte war aber offen, dann schloß der Hausschlüssel schwer, über allem noch der vom starken Nachmittagsguß zurückgebliebene in alle Ritzen dringende Nieselregen und: Was ist das? In der Diele, an der Garderobe, rechts neben dem Spiegel, hingen drei modisch gleiche Regenmäntel aus gleichem Material, ein männlich massiver, ein weiblich zierlicherer und – wie niedlich – ein putzig kleiner Lederolmantel wie für den kleinsten von Schneewittchens sieben Zwergen: Der Vater mit Frau und Tochter! Zweifel ausgeschlossen. Trotz der zwei Türen hörte man neben den vertrauten Sprechtönen der Großmutter und der Frau H. eine unvertraute Frauenstimme und vor allem eine ebenfalls unvertraute aber eindeutige Männerstimme, vortragsgeübt, anordnungsgewohnt, fesselnd: Der Vater und die Stunde der Wahrheit waren eingetroffen.

Als Rudolf die Küche betrat, sah er ohne Ablenkung nur das eine: zwei große, fragende, prüfende, kluge Kinderaugen; seine Schwester Angelika. Alle schwiegen drei Sekunden. Rudolf versuchte ein gewinnendes Lächeln, da fragte die unbekannte Frau ihre liebenswürdige, liebenswerte kleine Tochter: „Na, wer ist das?“ und das Kind, auf einer Fußbank sitzend, die man auf den Küchenstuhl gestellt hatte, damit es auf Augenhöhe der Erwachsenen teilhaben könne, angetan mit einem Kleidchen aus sympathisch warmem Stoff, kleine Puffärmelchen, mit roter Schnur eingezogen wie der rund geschnittene, ebenfalls eingezogene kragenlose Halsausschnitt, dieses Kind, die Haare zurückgekämmt und von einer beträchtlichen Schleife gehalten, sagte mit sicherer Stimme: „Das ist der Rudolf!“

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 67

– LXVII –

Der emsigen, nie nachlassenden Gedankendrängelei seiner bücherhütenden, bücheranpreisenden Biedermeierfee verdankte Rudolf nicht nur manche entspannte und entspannende Stunde, meist bei Bach, Vivaldi und Mozart, die sie, zartfingrig wie Eos, die Göttin der Morgenröte, so leichthin durch ihre unsterblichen Harmonien dem intarsienverzierten Spinett mit den schwarzen Tasten als lichte Gedankengestalten hörbar werden ließ, nein, er verdankte ihr auch manche Grübelei über die unergründlichen Tiefen der gedanklichen Höhenflüge zahlreicher Vor-Denker, dargereicht in kleinen Portionen zwischen geschmückten Buchdeckeln, als Anregung zum Nach-Denken und als Stoff zu Gesprächen am imaginierten Kamin in ihrer kleinen Klause hinter der extravaganten Leihbücherei, die wohl so leicht keiner, der sie nicht kannte, hier, in dieser unscheinbaren Straße am Traveplatz erwarten würde, und mit der sie ihren Unterhalt verdiente.

Er ließ sich von Paradoxen fesseln (der Kreter sagt: Alle Kreter lügen), er spielte mit unauflösbaren Widersprüchen (kann der allmächtige Gott einen so gewaltigen Stein erschaffen, den er dann selber nicht zu heben vermöchte?), er bewunderte die methodische Gedankenklarheit des 14. Jahrhunderts (Überflüssiges weiche dem rasiermesserscharfen logischen Ent-Schluß), er suchte nach Gedankenfehlern (zum Beispiel in der Prämisse der Wette auf die Unsterblichkeit, die der unvergleichliche, im Glauben wie im Glaubenszweifel gleichermaßen unübertreffliche Pascal seinen Mitmenschen anbot. Rudolf, der Lichtenberg-gestählte Zweifler dachte für sich: Was nützet dem Menschen aber alle tranzendentale Transzendenzakrobatik, falls es in diesem undurchschaubaren Universum vielleicht doch nichts als unübersteigbare Immanenz geben sollte?), und vor allem und am liebsten staunte er: Über Leibnitzens geniale Ansiedlung des Bewußtseins im Relationalen (beim imaginären Spaziergang durch das Gehirn, gleichsam wie beim Schreiten durch eine Maschinenhalle, – suggeriert Er, der große, alles überragende, alles umfassende und alles erfassen wollende Universaldenker – sähe man Manches, nur kein Bewußtsein), über Spinozas heldenhafte Vereinigungs- und Einheitsformel (deus sive natura), über des Cusaners Vereinigung von Welt(Gläubigkeit) und Glaubens(Welthaltigkeit), von Ding und Schein, Inhalt und Form, Seiendes und Sein (coincidentia oppositorum), und, und, und …

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Der Ehrgeiz ist, wie alle Abstrakta, unsichtbar. Rudolfs Ehrgeiz jedoch wird sichtbar, als er zielstrebig die Ingenieurschule Gauß ansteuert, um in den dortigen abendlichen Seminaren sein
Staunen zum mäeutischen Helfer für eine mögliche Technikerkarriere zu machen.

Innere Stimme. Die Hörbarkeit des Unhörbaren. Der Dozent redet laut, deutlich und deutbar, das innere Verstehenwollen turnt am Barren der Abstraktionen und am Reck der Begriffe und bemüht sich in imaginären Dialogen, sich selber belehrender Belehrter zu sein, verstehender Verstand, Vernunft als radikale Axt an den Wurzeln des Baumes der Erkenntnisse. Wer strebt, der lebt. Drei Abende in der Woche, Montag, Mittwoch und Freitag, verbracht in wechselnden Hörsälen, beim Heimfahren mit der S-Bahn Kolleghefte nachlesend, mit den Inhalten in Gedanken jonglierend, bis man einschläft, gewiegt vom Dadom-Dadom der über die Schienenstöße klappernden und kleckernden Drehgestelle. Achtzehnstundentag. An den anderen drei Abenden der Wochentage: Hausaufgaben in Materialkunde und Konstruktionslehr, in Mathematik und Geometrie, in Normwesen und Maschinenelemente, in Physik und Chemie. Wer immer strebend sich bemüht, … Es gab auch sonntags wenig Erlösung. Sonntags mußte gezeichnet werden, auf Pergament, mit Tusche und mit äußerster Präzision: Vorderansicht, Seitenansicht, Draufsicht, sinnvolle, fertigungsgerechte Bemaßung, alles maßlos anstrengend, Zauberei bei der darstellenden Geometrie, zwei Körper durchdringen sich, ein Rotationskörper durchstößt ein flachliegendes Polygon, zeichnen sie die Durchdringungskurven. Wo bleibt da noch Zeit für eine Freundin?

Er hatte es so gewollt, also durfte er sich nicht beklagen. Wollte er auch nicht. Aber manchmal, so an gewissen Tagen, da bäumte er sich innerlich auf und sagte unhörbar laut zu sich selber: Schluß! Wenigstens für heute. Es waren das immer diese Tage, wo das Licht draußen wisperte, schau, wie ich leuchte, wie mein silbriger Vorfrühlingsschimmer tastend die Konturen der Straßenbäume an der Ecke Geneststraße wie mit einem Weichzeichnerobjektiv ins Märchenhafte hebt. Komm, schau doch selber, was glaubst du, welche himmlischen Herrlichkeiten zu sehen sind im Grunewald, in Charlottenburg am Lietzensee, sogar im abgeholzten Tiergarten, oder am Ku-Damm rauf und runter, na, wie wär’s? Es konnte auch der letzte, der allerletzte Spätsommertag sein, wenn die schon flach stehende Sonne alle Konturen kontrastreich heraushob und kantenschaft betonte, wie schön doch die Welt sei und tadelnd fragte, ob man vergessen habe, was Freiheit sei, nun los doch, entscheide dich, die Welt gehört dir! An diesen beiden Tagen, die er so liebte, ging er dreist zu seinem verehrten Meister und log dem keß ins Gesicht: „Ich hab‘ ne dringende Privatangelegenheit zu besorgen; kann ich für diesen Nachmittag frei haben?“ Na sicher, einem guten Mann kann man so etwas nicht abschlagen („Wenn das nich öfter vorkommt?“). Es kam nur zweimal im Jahr vor. Immerhin: Was sein muß, muß sein.

Die blöde Tasche ließ er im Spind und fuhr frank und frei zum Wittenbergplatz, kehrte den Trümmern der Kleiststraße den Rücken und bummelte mit den Händen in den Taschen den Tauentzien hinunter, dachte sich, hoffentlich wir die zerhackte Gedächtniskirche nicht auch noch gesprengt, bog in den Kurfürstendamm ein, wunderte sich wieder einmal, daß wenigstens einer der beiden Filmpaläste hier davongekommen war, und schlenderte weiter auf der linken Seite Richtung Halensee, vor allem stehenbleibend, was nach Schaufenster aussah. Hier würde es wohl nicht fünfzig Jahre dauern, wie Vater Bruno befürchtete, bis alle Trümmer weggeräumt sind. Als die Sonne verschwunden war und die Schatten wisperten: Weltstadt Berlin, geliebter Rekonvaleszent, nun atmest du fast schon wieder gleich- und regelmäßig, und er fuhr von Halensee über Westkreuz quer durch die Stadt mit dem Erknerzug nach Köpenick, nach Hause.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 66

– LXVI –

Der Gedanke, Vater säße bald hier im Zimmer, würde ihn anschauen und Fragen stellen, Fragen nach seinen Erlebnissen und Meinungen, bereitete ihm offensichtlich soviel Kopfzerbrechen und innere Skrupel, dort drinnen, wo es unkontrollierbar denkt, daß sein Immunsystem die leichte Grippewelle, die gerade durch Straßenbahnen und durch die S-Bahn wehte, zum Anlaß nahm, zu streiken mit der unangenehmen Folge von Triefnase, Kopfschmerzen und Fieber. Er mußte zu Hause bleiben, und Frau H. goß Unmengen von heißem Fliedertee in ihn hinein. Die Oma ordnete unwidersprechbar kalte Wadenwickel an, und das Temperaturgefälle zwischen seinem Außen und seinem Innen jagte das Blut so durchs Gehirn, daß ihm eigenwillige Wachträume Geschichten erzählten, von denen er wahrhaftig nicht zu sagen gewußt hätte, welcher Realitätsebene sie angehörten. Wenn es denn stimmt – und alles Einsehbare spricht ja dafür – daß unser Bild von der Außenwelt nur die Eigenleistung unserer vom Selbst aufs Außen rechnend und schließend folgernde Gedanken- und Vorstellungssystematik ist, braucht man sich über das Folgende nicht allzu sehr verwundern. Kam jemand ins Zimmer und trat an sein Bett, sei es, um Fliedertee nachzugießen oder die inzwischen heißen und trockenen Lappen um seine Waden gegen eiskalte zu tauschen, so öffnete er hochschreckend die Augen und fragte die Frau H. oder die Großmutter, sie gleichermaßen erschreckend, weil sie mit seiner Frage reineweg nichts anzufangen wußten und nachsichtig meinten, er deliere wohl, wegen des kurzzeitig überraschend hohen Fiebers, daß sich von beiden Hilfskrankenschwesternseelen völlig unerwartet eingestellt hatte. Sie schauten also verblüfft und völlig verständnislos, als er sie bat: „Kann ich den Brief bitte noch mal lesen?“

„Welchen Brief?“

„Den ich an meinen Großvater geschrieben habe. Er muß dort auf dem Schreibtisch liegen, der Umschlag ist noch offen; und eine Briefmarke brauche ich auch.“

Großmutter und Frau H. schauten kopfschütteln einander an, hatten deutlich den gleichen Gedanken, es müsse wohl der Hausarzt gerufen werden, und die Oma sagte mit fürsorglichem Nachdruck: „Laß das jetzt erst mal, schlaf Dich lieber richtig gesund.“

Die beiden waren wohl ein bißchen eifersüchtig, dachte er undeutlich in seinem Fieberkopf und versuchte eben, sich seinen Brief in Gedanken noch einmal vor die Seele zu bringen:

Lieber Opa! Die Amerikaner haben uns allen gestattet, einen Brief nach Hause zu schreiben. Der Major, (man muß meetscher sagen), der das heute Vormittag bekanntgab, hat versprochen, dieser Brief würde tatsächlich auf den Weg gebracht und zugestellt werden. Viele hier wollen das nicht glauben und trauen ihm nicht, weil sie allen Amis nicht trauen wollen. Ich frage mich aber, warum sollte der Mann lügen? Er hätte doch nichts davon, und wundersame Anzeichen aus den verschiedensten Anlässen für eine manchmal schier unverständliche Hilfsbereitschaft bei den Siegern für die rein menschlichen Belange der Besiegten haben wir ja hier in Salzburg zur genüge erlebt. Also schreibe ich Dir. Wir sitzen ohnehin nur hier herum, in Salzburg in einer ehemaligen Kaserne, wohin sie uns vor zwei Tagen mit offenen LKWs von Bad Ischl, wo sie uns dann doch schnappten, gebracht haben. „Uns“, das ist mein Unteroffizier, der heißt auch Rudolf, ich soll ihn aber Rudi nennen, und ich. Als der Krieg aus war, hatte unser Bataillon fast Klagenfurt erreicht, es sollte nach Kroatien gehen. Wir haben uns dann über die Berge bis Bad Ischl durchgeschlagen. Ich bin froh, diesen Rudi bei mir zu haben. Er meint, die Amis werden uns wohl so bald als möglich aus Österreich herausschaffen, wahrscheinlich in das große Entlassungslager nach Rosenheim bringen und dann hoffentlich bald wieder nach Hause lassen.

Die Kaserne hier ist völlig überfüllt. Alle Räume und sogar die Gänge und Flure sind belegt. Wir beide sind daher in großen weißen Zelten untergebracht, die sie auf dem Kasernenhof aufgestellt haben. Die Landser, die zuerst kamen, mußten eine riesige lange Latrinengrube ausheben, die hat an jeder Seite ein genauso langes, schmales Sitzbrett, so daß die Benutzer in zwei Reihen mit ihren Rücken (und mit ihren nackten Hintern) zueinander sitzen. Zum Glück ist symmetrisch ein Brett als Lehne dazwischen. Dem Rudi macht das nicht allzuviel aus. Der geht dahin, wenn er muß, und unterhält sich dabei mit all den fremden Soldaten, um Neuigkeiten zu erfahren, die aber meist nicht stimmen, weil sie die Phantasie der Eingesperrten mit der Dynamik der möglichen Ausweglosigkeit einfach zum überlebensfähigen Ausgleich selber produziert. Ich aber grause mich davor. Dieser „Hundertzylinder“ – so nennen sie das – ist das Schlimmste von der ganzen Gefangenschaft. Ich schleiche mich deshalb erst spät in der Nacht, wenn die meisten schlafen, dorthin, damit ich bei diesem unvermeidlichen Geschäft möglichst (fast) alleine bin. Zu essen gibt es sowieso nicht viel, die Amis wissen doch gar nicht, wie so plötzlich die vielen Menschen ernähren sollen. Die Khakitruppe teilt einfach ihre Rationen, die sie wohl in Überfülle haben, mit uns. Doch die Aufteilung ihrer supper- und breakfast-Packungen führt zu seltsamen Ergebnissen: Ein paar Kekse, eine Handvoll Rosinen und einen Riegel Herschel-Schokolade. Mit etwas Glück erwischt man auch eine Vierteldose corned-beef. So etwas wird ziemlich rückstandlos verdaut, gottseidank.

Offenbar zum Ausgleich haben sie gestern jedem eine seltsame große Packung völlig fremder Zigaretten verkauft, die müssen sie wohl hier in Österreich erbeutet haben. Auf der Packung stand Tabak-Trafik, was immer das heißen soll. Ich schreibe „stand“, denn irgendein Schweinehund hat mir die Zigaretten aus meinem Tornister geklaut. Der Rudi hat gesagt, es gebe keinen Anstand mehr, und dem Kerl sollte man … doch das schreibe ich nicht, weil es zu ordinär war. Schade, ich hätte Dir die Zigaretten gerne mit nach Hause gebracht.

Wie geht es Euch beiden überhaupt? Bist Du gesund, und die Frau L. auch? Falls ich entlassen werde, muß ich zusehen, zur Mama nach Thüringen zu kommen, denn alle sagen hier, die Amis entlassen niemanden nach Berlin. Ich kann mir also nicht vorstellen, wann wir uns wiedersehen werden.

Ich muß schließen. Ich habe nur den einen Briefbogen, und der ist jetzt voll. Liebe Grüße an Frau L. Ich umarme Dich, paß auf Dich auf. Ich brauche Dich doch noch. Dein Rudolf.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 65

– LXV –

Immer wenn Rudolf von Köpenick aus mit der S-Bahn in die Stadt hinein fuhr, sei es nun nur bis Ostkreuz, zum Umsteigen nach Papestraße, oder weiter Richtung Friedrichstraße, Zoo und Charlottenburg, je nach dem, wohin er mußte oder wollte, dann fiel bei der Einfahrt in den Bahnhof Karlshorst sein Blick rechterhand auf ein Eckhaus im Palaststil der Gründerjahre, an das eine höhere Macht einen rechteckigen Klotz angebaut hatte, der das Gebäude beträchtlich überragte: ein Bühnenhaus. Dieses Gebäude mit seinem rechtwinkligen Krebsgeschwür, diesem rein funktionalen Nutzanbau war das Theater der Karlshorster Garnison. Jetzt war es das, nachdem diese höhere Macht nach der Eroberung Berlins dieses stolze Haus seiner Großmutter und dem ihr zugehörigen Onkel Oskar weggenommen hatte, beiden damit genau genommen die Existenzgrundlage entziehend, wie man jemandem den sprichwörtlichen Teppich unter den Füßen wegzieht.

Das Haus hatte ihnen zwar nicht gehört, das ist richtig, sie hatten es nur gepachtet, um darin ein Restaurant mit mehreren Räumen und – dies war das Wichtigste, was die Chose zur Gelddruckmaschine gemacht hatte – mit zwei Tanzsälen und einer Tanzfläche im freien zu betreiben, denn hinter dem Haus, entlang der Stolzenfeldstraße, war ein genügend großer Garten. Der große Tanzsaal lag zu ebener Erde, mit breiten Türen zum Garten, zwei Stufen hinunter, davor Platz für Tische und Stühle, die halbkreisförmig die feste Tanzfläche im Freien umschlossen, deren fugenlos glatte Oberfläche aus Solnhofener Platten wie ein Teich aus Milchkaffee aussah, wenn niemand darauf tanzte. Der andere, der kleine Tanzsaal war im ersten Stock, modern eingerichtet mit hohen schlanken Spiegeln, mit Facettenschliff, an den Wänden, dazwischen blumenartige Lampenbündel aus Messing, die kleinen Birnchen in kelchförmigen Opalglasblüten, wodurch der kleine, anheimelnde Raum erstens größer und damit recht eigentlich erst zu einem Saal wurde, und zweitens wie das Foyer eines UfA-Palastes im Stile der dreißiger Jahre wirkte. Alles im krassen Gegensatz zu den kleinen Holztischen mit Marmorplatten im unteren Saal, um die herum wiener Kaffeehausstühle aus gebogenem Holz standen, und der wirklich seiner realen Größe nach die Bezeichnung Saal verdiente und etwas her machte mit seinen großen unterteilten Fenstern, die Platz boten für jeweils ein schönes, umlaufendes Jugendstilornament aus bunten Gläsern.

Der Clou dieses beliebten und gern besuchten Etablissement, das es einmal war, wortwörtlich der Nagel, mit dem Onkel Oskar und Anna Wenzel ihren bemerkenswerten Erfolg „festgeklopft“ hatten, lag aber in überraschender doch
leicht einsehbarer Weise nicht in ihm selber oder in der Art, wie es eingerichtet war und betrieben wurde, der Clou, sein außer ihm liegendes Kernstück oder seine Seele war die auf der anderen Seite der Bahn liegende Pferderennbahn. Ohne diese Rennbahn, weltberühmt, und ohne ihre Besucher und Wettfreunde wäre der Erfolg niemals möglich gewesen. Oma Wenzel meinte sarkastisch aber treffend: „Ob die nu gewonnen hatten oder nich, einen Grund zum Saufen und Schwofen hatten die allemal, so oder so.“

Es war nicht das erste Lokal, das die beiden betrieben, zuvor allerdings jeder für sich. Die beiden kannten sich seit dem Hausbau in der Kohlisstraße. Sie lernten sich kennen, als an dem Neubau noch die Gerüste standen, und Anna mit ihrem zweiten Mann, dem Wenzel, abends in das Lokal ging, das Onkel Oskar eingangs der Kohlisstraße, unmittelbar neben der Straßenbahnhaltestelle und Wendeschleife, in einer Fachwerkvilla mit Saalanbau betrieb. In deren Obergeschoß er auch mit seiner Frau in einer großen, herrschaftlichen Wohnung residierte. Onkel Oskar war buchstäblich ein Entrepeneur, ein phantasievoller, risikofreudiger Veranstalter und Unternehmer. Vieles hatte er schon in die Welt gesetzt, nur keine Kinder. Sein größter Wurf vor der Zeit mit dem Lokal „Uhlenhorst“ war eine Würstchenfabrik in Köpenick, die sogar seinen patentierten Namen trug. Er hatte sie durch den Weltkrieg und durch die Inflation gebracht, und als sie wieder richtig lief, verkaufte er sie, um das Restaurant mit Tanzsaal am Uhlenhorster Forst Ecke Kohlisstraße einzurichten. Es lief wie geschmiert, und er konnte sich – mit und ohne seine Frau – leisten, was er wollte. Der Blinde an Annas Seite konnte nicht beweiskräftig hinschauen, und so leistete sich Onkel Oskar auch eine Freundin, die ihm ebenbürtig war und Anna hieß. Das Familiengerücht flüstert: Als er mit dieser Anna, die alles andere als blind war, – Oskar war ein schöner Mann, ein beeindruckender Herr – nach Italien fuhr, jagte Oskars Frau mit dem nächsten Zug hinterher und machte in einem noblen Hotel am Gardasee ein Riesentheater. Man arrangierte sich, so gut es sich machen ließ, und das Schicksal griff zugunsten der beiden kraftvollen „Vitalisten“ korrigierend ein: Der blinde und lebensunlustig gewordene Wenzel und Oskars krebskranke Frau starben innerhalb eines Jahres.

Anna Wenzel hatte ihre Blusenfabrikation und das Geschäft in der Petersburger Straße aufgegeben, nachdem die Nazis das überschäumende Geschäftsleben am Hausvogteiplatz so brachial arisiert hatten. Ohne Juden auch keine ursprüngliche Berliner Durchreise mehr im Frühjahr und im Herbst. Oma Wenzel stieg aus und sattelte um: Sie pachtete in Köpenick nahe dem Amtsgericht eine lebensprühende Kneipe, in der mittags die Richter, Rechtsanwälte und ihre Klientel deftiger berliner Küche zusprachen und sich des abends bis spät in die Nacht hinein zum Skat trafen. Nüchtern sagte sie dazu: „Hier hab‘ ich saufen gelernt, rauchen und gnadenlos Skat spielen.“

Onkel Oskar schloß das „Uhlenhorst“ und verpachtete die Räume an einen Galvaniseur, der dort seine Oberflächenveredelungsanstalt einrichtete. Die Anna räumte ihre Position in Köpenick ebenfalls, und beide stürzten sich gemeinsam und erfolgreich in den Karlshorster Rennbahn- und Vergnügungsbetrieb. Zum Pachtumfang gehörte auch standesgemäße Wohnung, und Oma Wenzel zog mit Onkel Oskar zusammen. Geheiratet haben die beiden nicht. Beide hatten die Gabe, allen Gästen, alten wie jungen, das Gefühl zu geben, jeder Einzelne sei der Mittelpunkt all ihrer Aufmerksamkeit. Folge: Der Laden brummte. An Renntagen war kein Platz zu kriegen, und wenn Tanz war, stand das Lokal kopf. Wenn die Großmutter diese Geschichten erzählte, hatte sie ein beneidenswertes Siegerlächeln. Sie schwärmte: „Mein Gott, an vielen Abenden mußte ich das Geld in der gerafften Schürze nach oben in die Wohnung tragen und auf’s Bett schütten. Zum Zählen kamen wir gar nicht.“

Onkel Oskar zeichnete allein in den Kriegsjahren für 60.000 Mark Preußische Staatspapiere, die von den Alliierten durch den Federstrich der Annullierung des Preußischen Staates in eine luftleichte Erinnerung verwandelt wurden. Als die Russen einmarschierten, mußten die beiden Lokal-Matadore auf Knall und Fall Wohnung, Lokal und Haus räumen. Onkel Oskar war zu der Zeit schwer krank. Die Oma schaukelte ihn auf einer Schubkarre von Karlshorst nach Mahlsdorf in die Kohlisstraße. Bei einem Mittagsschläfchen – die Oma hatte ihn ans offene Fenster der Veranda gebettet – wurde er von einer Kreuzspinne (?) in den Nacken gebissen. Es entzündete sich über nacht, der herbeigerufene Arzt war (ohne Antibiotika) machtlos. Immunsystem und Kreislauf brachen zusammen. Er starb unter großen Schmerzen an Herzversagen. Penicillin, auf dem Schwarzmarkt unerschwinglich, hätte ihn vielleicht gerettet, doch all das schöne Geld stand nur noch auf dem Papier. Auf dem Haus der Galvanisieranstalt lag zu Omas Gunsten eine Hypothek von 30.000 Mark. An die war selbstverständlich nicht kurzfristig heranzukommen. Treppenwitz: Onkel Oskar war Ende fünfundvierzig verstorben. Rudolf wohnte schon knapp ein Jahr bei der Großmutter, da erschien drei Tage vor der Ehrhardschen Währungsreform der Galvaniseur und zahlte lächelnd der verblüfften Oma die dreißigtausend bar auf den Tisch. Sie konnte nicht einmal mehr darüber weinen. Bei Verwandten von Willys erster Frau, deren Sippe in der Textilgegend um Forst zu Hause war, und die alle mehr oder weniger mit der dortigen Textilindustrie liiert waren, wurden eiligtst Stoffe erstanden, die sich nach der Währungsreform wenigstens einigermaßen zu realen Preisen verscherbeln ließen. Aus einem dieser Stoffe, einem englisch karierten, geblufften Zellstoffmuster, bekam Rudolf einen Anzug – nach Maß! Der lebende Onkel Oskar wären allen Beteiligten zehnmal lieber gewesen. Sic transit gloria mundi.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 64

– LXIV –

Im November 1947, als Rudolf seit ein paar Monaten bei seiner neu gewonnenen Großmutter in Mahlsdorf wohnte und den ungewohnten Luxus des eigenen Zimmers und das Verwöhntwerden durch zwei Frauen genoß („Na die Frau H. hat ja regelrecht einen Narren an Dir gefressen“), bahnte sich eine besondere Begegnung an, die für Rudolf in mehreren Aspekten von nachhaltiger Bedeutung werden sollte. Die Großmutter eröffnete ihm die freudige Nachricht: „Der Willy kommt mit seiner Frau und seiner Tochter bald zu Besuch nach Berlin; dienstlich natürlich, doch er wird bestimmt auch uns hier draußen besuchen.“

So-so, dachte Rudolf, der Vater ist also im Anmarsch. Die sofort ausgelöste Phantasie konnte sich an einer postkartengroßen Fotografie abstützen, die dem Brief an die Großmutter beigelegen hatte. Rudolf konnte das Bild stundenlang anschauen. Drei Personen waren zu sehen: Die Charlotte, seine junge (zweite) Frau, er selber, mit glattrasiertem Gesicht, dunkles Haar mit beginnenden Geheimratsecken, dunkler Zweireiher mit Kavaliertaschentuch, ein Gentlemen, den Rudolf auf der Straße nicht erkannt hätte, und: ein kleines Mädchen, das wie der Vater genau in die Kamera schaute, ernst und ganz, ganz aufmerksam. Es war ihm, als wollte sie sagen: Das also ist mein Bruder! Er mußte es sich selber wieder einmal richtig klar machen: Ich habe (wieder!) eine Schwester. Hatte ihm der Krieg – wie auch immer – seine damalige Quasi-Schwester genommen, dort auf dem Foto stand sie vor ihm, die neue, die richtige Schwester. Als Berliner mußte er sich sagen: „Eine niedliche Jöre, een süßet Meechen, nee sowat!“

Der Vater auf dem Bild lächelte zwar, aber er lächelte zu klug, zu überlegen. Rudolf hatte Bammel vor ihm. Und er hatte ja innerlich eine Wut auf ihn. Nicht wegen der Geschichten, die ihm die Mutter ungezählte Male erzählt hatte, das nicht, das war ihre Sache und ging ihn nichts an. Aber dieser Umzug von der Frankfurter Allee in die Winterfeldstraße, ohne Nachricht, diese Enttäuschung saß noch tief, und: Die „Gemeinheit“ damals, als er ihm das Radfahren beibrachte, auf den festen Waldwegen des Uhlenhorster Forst. Läuft neben ihm her, hält das Rad am Sattel fest, gibt Anweisungen, aber gibt ihm durch seine mitlaufende Anwesenheit auch Sicherheit, Rudolf strampelt angestrengt, auf einmal, als er nach rechts schaut, ist kein Vater mehr da! Plautz, lag er vor Schreck „auf der Schnauze“. Er schaute zurück: Hundert Meter hinter ihm stand ein lachender Vater und rief: „Bravo, mein Junge, das ging doch schon großartig!“ So ein gemeiner Kerl, und jetzt sollte er zu Besuch kommen. Gemischte Gefühle.

Wissen muss die Leserin: ich hatte diesen Mann seit 1938 nicht mehr gesehen. Schaun mer mal.

„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 63

– LXIII –

Als Rudolf bei Klangfilm anfing, es war ein herrlicher Tag Anfang Juli siebenundvierzig, beim Umsteigen in Ostkreuz, als er wie üblich die Treppen zum Ringbahnsteig hinauflief, hatte die Sonne schon alles versprochen, was man billigerweise in dieser Jahreszeit von ihr erwarten durfte, da zeigte der Meister S. mit Hausherrengeste in den Werkstattraum hinein, zur Fensterfront hin, und sagte geradezu generös: „Suchen Sie sich einen Platz aus, vier sind ja noch frei.“ Rudolf wählte den letzten Platz links hinten am Ende der Werkbankreihe. Wenn noch jemand nachkäme, hätte er nur einen Nachbarn und konnte in den Pausen, beim Essen, seinen Hocker an die Wand stellen und sich anlehnen und in die Werkstatt hineinschauen, die Reihe der Kollegen entlang und zur Meisterbude hin. Als Letzter in dieser Reihe saß der ranke und schlanke Vizemeister, neben sich den Schrank mit den Meßwerkzeugen, den Bohrern, Reibahlen und all den Werkzeugen, über die nicht jeder Einzelne selber aus dem Bestand seines Werkzeugkastens verfügte, und die man bei ihm gegen eine numerierte Werkzeugmarke als Pfand auslieh. Am Freitagabend mußte man schauen, daß man seine zehn Marken wieder beisammen hatte. Gelang das nicht auf Anhieb, war es peinlich, den Vizemeister fragen zu müssen, welches Werkzeug man ihm denn noch schulde; ein blankes Eingeständnis von Schlamperei. Bei aller täglich gezeigten Freundlichkeit und Hilfbereitschaft, in diesem Punkte war er unerbittlich und drohte mit gut gespielter Strenge: „Wer sein Zeug nicht zusammenhalten kann, muß den Schaden ersetzen.“ Meist fand sich ja alles nach einigem hektischen Suchen – der heraneilende Feierabend grinste vom Zifferblatt der großen runden Normaluhr über der Tür der Werkstatt – bei einer Maschine, an der man tags zuvor gearbeitet hatte oder bei einem grinsenden Kollegen, der sich Bohrer, Meßuhr oder Grenzlehrdorn „nur mal schnell“ ausgeliehen hatte, selbstverständlich, ohne groß zu fragen.

Rudolf hatte an diesem ersten Tag sein persönliches Werkzeug in Empfang genommen und quittiert und war gerade dabei, es aufzuteilen zwischen dem großen Schubkasten unter der Platte der Werkbank und den sechs kleinen Schubladen, die schräg unterhalb des Schraubstocks angebracht waren, mittels einer davorzuschwenkenden Klappe ebenfalls verschließbar, als ein vertrauenerweckender älterer Kollege, der in der Zweiten Reihe hinter ihm seinen Platz hatte – es war der Spezialist für besondere Probleme bei Projektoren – auf ihn zukam, ihn noch einmal begrüßte, ausdrücklich „im Namen des Betriebsrates“ und ihn davon in Kenntnis setzte, daß alle Kollegen hier ausnahmslos in der Gewerkschaft seien, und er fügte ohne die geringste Pression in der Stimme hinzu: „Was meinst Du, wirst Du Dich da ausschließen?“ Rudolf hatte nicht die Absicht, sich hier auszuschließen. Weil sich mit seinen drei Kollegen in der Schreibmaschinenwerkstatt solche Fragen nicht gestellt hatten, war ihm ein solcher Gedanke von selber gar nicht gekommen. Bei Telefunken war schließlich auch jeder in der Deutschen Arbeitsfront gewesen – allerdings automatisch und nicht freiwillig. So wurde er jetzt auf die demokratischste Weise Mitglied im FDGB, im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, der zu dieser Zeit – gerade noch, jedenfalls in Berlin – eine einheitliche, alle umfassende Organisation war.

Der Kollege vom Betriebsrat hatte ihn unterrichtet, es sei so üblich, einen Stundenlohn in der Woche für die Gewerkschaftskasse einzubringen. Er hatte ihn nicht gefragt, wie hoch sein Stundenlohn sei, über Lohn konkret zu sprechen, war nicht üblich. Den Lohn vereinbarte jeder mit dem Meister selber. Der Meister hatte ihm bei seiner Vorstellung, nachdem er sich ausführlich über seine bisherigen Kenntnisse vom Vizemeister hatte ins Bild setzen lassen, die Lohngruppe vier zugebilligt, die zur Zeit für einen neunzehnjährigen Gesellen 86 Pfennige pro Stunde vorsah. Das waren drei Pfennige mehr, als ihm der letzte Chef gezahlt hatte. Rudolf entschied also, und er sagte dies auch sogleich dem Betriebsratkollegen, er werde wöchentlich eine Marke zu achtzig Pfennige kaufen und sie ins Mitgliedsbuch kleben. Der Betriebsrat schaute ihn quasi väterlich an, gab ihm noch einmal die Hand, klopfte ihm gleichzeitig mit der anderen Hand wie bestätigend leicht auf die Schulter und sagte dann durchaus ernst: „Ich freue mich, daß Du nun einer von uns bist.“

Nun war er als Feinmechaniker nicht nur gelernter Metallarbeiter von Beruf, nun war er auch bekennender Gewerkschafter; jetzt war er Metaller. Die Gelegenheit, sich im Rahmen dieser freiwillig zugestimmten Mitgliedschaft zu bekennen, sollte schnell kommen. Gerade hatte man den charismatischen Menschen Ernst Reuter zum Berliner Oberbürgermeister gewählt. Trotz (oder wegen) seines Bekenntnisses zu Lenin (als Kriegsgefangener des ersten Weltkriegs in Rußland), seiner früheren Tätigkeit als Volkskommissar und seiner Mitgliedschaft in der KPD (wie Oma Anders), lehnte es die sowjetische Besatzungsmacht ab, ihn in diesem Amt zu bestätigen. Er war 1921 wieder aus der KPD ausgetreten und zur SPD zurückgekehrt. Solche Renegaten betrachteten die russischen Kommunisten als Todfeinde. Reuter konnte sein Amt zunächst nicht antreten. Es gab mächtigen Ärger im Magistrat und eine ziemliche Keilerei unter den Stadtverordneten in der Parochialstraße. Die Bürgermeisterin Louise Schroeder zog mit der SPD-Fraktion aus und übernahm für Reuter kommissarisch das Amt des Oberbürgermeisters im Rathaus Schöneberg, bis Reuter nach der endgültigen Spaltung Berlins dort die Verwaltung und die Regierung von Westberlin übernehmen konnte. Diese politische Provokation durch die Russen, über die sich Rudolf – wie alle Berliner – ziemlich aufregte, hatte selbstverständlich auch Folgen für die Gewerkschaft. In Westberlin bildete sich die UGO, die Unabhängige Gewerkschafts-Opposition. Da der FDGB zunächst bestehen blieb, mußte man sich entscheiden. Rudolf, obwohl er im Osten wohnte, entschied sich für die UGO. Er dachte dabei an seine Großeltern. Der Großvater Karl Anders als leidgeprüftes SPD-Mitglied hätte die von den Russen geförderte und von der Westpresse sogleich Zwangsvereinigung genannte Zusammenfügung der SPD mit der KPD zur SED in Ostberlin bestimmt nicht mitgemacht. Darin wäre er sich – wie früher schon – mit seiner Marie nicht einig gewesen. Marie Anders dagegen würde vielleicht schmunzeln, daß jetzt ein ehemaliger KPD-Mann Oberbürgermeister von Berlin war, wenn auch nur im Westen. In ihrer ruppigen Art hätte sie bestimmt gesagt: „Na wat denn, die Amis wolln uns doch mit dem Marshall-Plan bloß den eigentlich fälligen Kommunismus abkoofen.“ Georg Marshall hatte gerade mit seiner vielbeachteten Rede in Stuttgart vorgeschlagen, mit dieser überraschend großzügigen Hilfe auch den bösen deutschen Verlierern wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, statt ihnen wieder unmöglich zu leistende Reparationen aufzubrummen.

Rudolf wurde erst im Dezember 1949 einundzwanzig Jahre alt. Bei den ersten beiden Wahlen, vor und nach der Spaltung, bei denen die SPD hervorragend abschnitt und vor allem die SED in den Schatten stellt, war Rudolf – zu seinem Bedauern – noch nicht wahlberechtigt. Gleich nach der Währungsreform im Sommer achtundvierzig, als die in Westberlin arbeitenden Ostberliner zehn Prozent ihres Lohnes in Westgeld ausgezahlt bekamen (später waren es zwanzig Prozent), ging er hin und kaufte sich demonstrativ eine Baskenmütze, wie sie Ernst Reuter trug, und ließ sich achselzuckend in Ostberlin scheel ansehen. Der Haß wuchs, und die Trennungstendenzen wuchsen auch. Das Leben wurde sozusagen von Tag zu Tag sichtlich komplizierter.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 62

– LXII –

Zwei Großmütter, zwei Welten, doch ein unbeugsamer Wille in beiden. Obgleich diese beiden Frauen, Marie Anders und Anna Wenzel, unterschiedlicher nicht sein konnten, schaut man nur auf die Bühne, wo sie ihre selbstgewählte Lebensrolle gespielt haben, soweit leben wählen ist.

Marie Anders atmet Stallgeruch, als sie ihre Nase notgedrungen in die gesunde Luft des Dorfes Rogätz halten muß. Gefreut wird sich ihre Mutter kaum haben, denn die Frauen des Dorfes für das uneheliche Kind des Gutsverwalters um Windeln bitten zu müssen, ist ein bitterer Gang. Marie wird gelacht und gebrüllt haben wie alle Babys, von ihrer späteren Duchsetzungskraft her zu schließen wahrscheinlich mehr gebrüllt als gelacht. Sechzehn Jahre als Bankert im reißenden Urteilstrom des Dorfgeredes haben ihr gereicht, sie geht mit sechzehn über Wollmirstedt nach Magdeburg, heiratet als ungelernte Arbeiterin in einer Zuckerfabrik den ein Jahr älteren hübschen, gertenschlanken Jungen, der sich mit seinem Vater, einem Gerichtsdiener beim Amtsgericht, nicht versteht (der Beamte ist Deutschnational und der Sohn ist Sozialdemokrat) und deshalb als „Austräger“ in eben dieser Zuckerfabrik sein Geld damit verdient, daß er glühheiße Zuckerhüte aus dem Sinterofen zieht und in die Trockenregale schleppt. Sie bekommen sechs Kinder, auch Marie wird Sozialdemokratin, beide sind somit vaterlandslose Gesellen, unsichere Kantonisten, und wollen unbedingt nach Berlin, dorthin, wo es mehr und bessere Arbeit geben soll, und wo die Politik gemacht wird, der sie sich beide verschreiben, jeder auf seine persönliche Weise.

Der Start der Anna Glow war behüteter. Ihr Geburtsort, der Bahnknotenpunkt Schneidemühl in der preußischen Provinz Posen (preußisch nach der gewaltsamen dritten Teilung Polens), hatte damals schon rund 25 000 Einwohner. Ihre Eltern waren angesehene Leute. Ihr Vater, der Reichsbahnadjunkt Glow, war pensionsberechtigt. Kurz vor der Jahrhundertwende stellt er sich hoch aufgerichtet in Bahneruniform, auch ein Rock des Kaisers, königsblau mit rotem Stehkragen und breiten roten Ärmelstulpen, aus denen die weißen Handschuhe hervorschauen, das geflügelte Rad des Fortschritts (der industriea) am Kragenspiegel, zwischen den beiden von der Schulter zur Taille laufenden zwei Reihen blitzblank geputzter Goldknöpfe prunken vier Orden und Medaillen am Bande, so dekorativ und demonstrativ gekleidet also stellt er sich vor den Fotografenkasten des Kunstphotographen T. Graszynski, neben sich, auf einem samtbezogenen Hocker sitzend seine etwas kugelige Ehefrau, und beide schauen selbstbewußt
und durchaus nicht eitel ins Objektiv. Die Frau hat arbeitsgewohnte Hände, hält aber damit eine stinkteure Lederhandtasche an der flexiblen Lederschlaufe, ein zeitlos schickes Modell pariser Zuschnitts. Man würde ihnen aufs Wort glauben, wenn sie sagten, sie haben ihr geregeltes Auskommen. Sie sehen beide zuverlässig und kreditwürdig aus.

Warum denn aber will ihre Tochter Anna, kaum achtzehn Jahre alt geworden, mit Macht nach Berlin? Sie ist groß, stattlich, ja geradezu hübsch mit ihren mittelbraunen Haaren, sie hat einen glühenden Verehrer, Berufssoldat, Portopeeträger, so kaisertreu gesonnen wie ihr Vater, als Möchtegernschwiegersohn bei ihren Eltern wohlgelitten, aber nein, das Mädel hat nur eines im hübschen Dickopf: Auf nach Berlin, in die siegreiche Kaisermetropole, um sich dort selbständig zu machen. Sie weiß auch genau, wie das gehen soll, und – das darf vorweggenommen werden – es ist gegangen.

Nachdem sie sich bei den fassungslosen Eltern verabschiedet hat, bringt sie ihr Verehrer , der schmucke Mensch in Kaisers Rock, zum Bahnhof. Unterwegs redet er mit Engelszungen auf sie ein, bis zuletzt versuchend, sie zum Bleiben und zur Ehe zu überreden. Alles vergeblich. Sie besteigt mit seiner galanten Hilfe den letzten Wagen, stellt ihren Koffer ins Abteil und geht hinaus auf den offenen Perron. Sie schaut lächelnd hinunter auf den Soldaten, der nun, endlich seine Niederlage realisierend, betrübt zu ihr hinaufschaut, ihr einen Porzellankrug hinaufreicht und – als sich der Zug in Bewegung setzt – seine rechte Hand grüßend an den Mützenschirm legt. Auf dem Krug, umrankt von einem Eichenlaubkranz , stand der sinnige Spruch (der Soldat hatte also schon gewußt, daß er reterieren muß): „Behüt Dich Gott, es wär so schön gewesen, … es hat nicht sollen sein.“ Die Stelle, wo hier die Pünktchen stehen, ließ sie beim Erzählen immer aus, die hatte sie vergessen, und damit sind sie dem Erzähler ebenfalls entgangen. Doch fügte sie stets hinzu: „Das ist aus dem „Trompeter von Säkkingen, glaube ich.“

Als sie dem Rudolf dies alles zum ersten Male erzählte, saßen sie zu dritt – Frau H. gehörte ja zur Familie – im gemütlich warmen Zimmer. Frau H. saß schweigend dabei und strickte. Rudolf bohrte: „Und wie ging es weiter? Kanntest Du denn überhaupt irgendjemand in diesem großen Berlin?“

Der Lichtkreis der Stehlampe ließ ihre vollen grauen Haare glänzen. Es glänzte auch das dreistrahlige Granatkollier, daß um das schmale weiße Stehbündchen ihres dunklen Kleides herumlief und eine goldene Brosche, einen Kranz von Rosen darstellend, mit einer elfenbeinernen Gemme einschloß. Ihr Mund war schmal geworden, aber er lächelte, auch wenn sie nicht lächelte. Das willensstarke Kinn war noch deutlich, nur ihre schmal gewordenen Wangen verrieten ihr Alter, und in den tief verschatteten Augen lag die Trauer über den unverhofften Tode von Onkel Oskar, ihres letzten Lebensgefährten. Er war der Mann gewesen, der wohl am besten zu ihrem Wesen gepaßt hatte. Sie hatte so fest geglaubt, mit ihm trotz aller materiellen Verluste noch eine gute Weile gemeinsam durchs Leben marschieren zu können. Denn beide hatten eine Generalsseele und so manche Schlacht zusammen geschlagen.

„Ich kam am Schlesischen Bahnhof an“ erzählte sie weiter, „und landete wie von sicherer Hand geführt in einer kleinen, blitzsauberen Pension unweit des Bahnhofs Warschauer Straße.“ Bei diesen Worten schaute sie lange, erinnerungschwer, auf einen imaginären Punkt weit in der Ferne der Vergangenheit.

Wenn Rudolf heute in der eigenen Erinnerung diesem Blick hinterherschaut, kann er nur mit dem Kopf schütteln. Diese Frau war wie Cäsar, sie kam, sah und verwirklichte ihre Pläne. Vielleicht muß man sogar sagen, sie verwirklichte ihre Träume. Wenn es denn Träume waren, dann waren sie von großer Klarheit und Deutlichkeit.

Ihre neue Wirtin hatte eigentlich überhaupt kein Zimmer frei. Doch sie machte der jungen Frau, die sich nicht abweisen lassen wollte, den Vorschlag, das Zimmer mit einer gewissen Paula zu teilen. Die sei ein sauberes Mädel und arbeite bei Auer, einer Fabrik für Gas-Glühstrümpfe, an der anderen Seite der Warschauer Brücke, nahe der Mühlenstraße und Stralauer Allee. Fontane hat diese Gegend unvergeßlich in seiner „Frau Jenny Treibel“ geschildert. Wenn diese Paula am Abend nach Hause käme, könne man sie doch fragen, ob sie mit diesem Arrangement einverstanden sei. Auf diese weise sparten sie beide die halbe Miete. Bis dahin könne sie, die junge Anna, doch unbeschadet warten. So geschah es, und die Freundschaft zwischen Anna und Paula sollte sechzig Jahre währen.

Ein zweites Bett wurde in das nun gemeinsam zu bewohnende Zimmer gestellt, und in der ersten Nacht kamen die beiden jungen Dinger – Paula war ein Jahr älter als Anna – vor lauter Plaudern und Fragen und Kichern kaum zum schlafen. Doch Anna erzählte, sie wolle sich morgen schon eine moderne Nähmaschine kaufen, einen Zwischenmeister aufsuchen und zunächst einmal um Arbeit bitten. Sie wolle Blusen nähen, wie sie heute Mode seien, und sobald sie wisse, wie der Hase laufe von den Zwischenmeistern zu den eigentlichen Auftraggebern, werde sie sich selbständig machen. Paula kam aus dem Staunen nicht heraus. Doch Annas Vorschlag, diesen Weg doch gemeinsam zu gehen,
lehnte sie ab. Sie war für Sicherheit, Sie habe einen Freund, den Arno, der kellnere in Ausflugslokalen, und wenn der eine feste Stelle habe, würden sie heiraten und Kinder kriegen.

Der Mensch denkt, und der Himmel lenkt. sagen die Leute. Paulas Arno bekam die feste Stelle in einem der beliebtesten berliner Ausflugslokale auf der Pfaueninsel, sie heirateten, aber Kinder waren ihnen nicht beschieden. Arno blieb wegen der schwierigen Verkehrsanbindung der Insel die Woche über draußen und kam während der Saison nur einmal in der Woche nach Hause. Er war anderthalb Kopf kleiner als seine Paula, die Annas Größe hatte, und hieß bei seinen Kollegen der Kugelblitz, weil er so ausdauernd bedächtig war, auch im Reden.

Anna kaufte die Nähmaschine. Anna becircte sämtliche Zwischenmeister. Anna drang vor bis zu den Chefs am Hausvogteiplatz, und bald kaufte Anna auf eigene Rechnung Stoffe ein, mietete Räume für eine Nähstube und beschäftigte fleißige, propere Mädchen als Näherinnen, die vom Lande kamen und wie sie ihr Glück in der großen Stadt machen wollten. Das Zuschneiden behielt sie sich selber vor.

Annas Blusen wurden ein Renner, und die Textiljuden rissen ihr die Ware aus den schönen und fleißigen Händen. Nun fehlte nur noch eines: Ein eigenes Geschäft. Auch das wurde eröffnet, und zwar in der Petersbuger Straße. Anna war am Ziel. Doch der Mehrer hat einen Zehrer, sagt das Volk, und das Volk, die Leute im Plural der gesellschaftlichen Verallgemeinerung, sie haben immer recht.

Lange hatte die Anna keinen an ihre Wäsche gelassen. Paula, Arno und Anna gingen gelegentlich zu dritt aus, nach Treptow in den Paradiesgarten oder in die Hasenheide nach Neukölln. Aber immer wenn es interessant war, hatte der Arno Dienst, und so fuhren die beiden lebensfrohen Frauen hinaus zur Pfaueninsel und ließen sich von Arno dem Kugelblitz bedienen.

Viel Arbeit und wenig Vergnügen, das lief so lange, bis er sich näherte, der gutaussehende, liebe böse Johann-Friedrich. Anna lernte ihn beim Ausliefern kennen als Lagerarbeiter bei einer ihrer Abnehmerfirmen. Er war Lagerarbeiter, doch er sah keineswegs so aus. Er sah aus wie das blühende Leben und wie die große Welt. Er war entschlossen, das Leben zu leben, und er wußte, wie Sekt schmeckt und wo man ihn trinkt. Allerdings fehlte es ihm meist am Geld dazu.

Der Anna gefiel er auf den berüchtigten ersten Blick. Und die Anna hatte das Geld, das ihm fehlte. Der Anna gefiel nicht nur der Kerl, ihr gefiel auch sein Ehrgeiz. Er war nicht unbedingt fleißig, doch er wußte die Menschen für sich einzunehmen. Im Handumdrehen war er Vorarbeiter, er lernte Zuschneiden und machte die Gehilfenprüfung. Mit ihm zusammen eröffnete die Anna den Laden in der Petersburger Straße. Über dem Laden war eine große Wohnung. Die beiden heirateten. Arno, der Kugelblitz, legte die Stirn in Falten und schwieg. Paula, die Busenfreundin, meinte zögernd: „Anna, liebe Anna, mich dünkt, dein Johann-Friedrich ist ein Schlawiner. Sei mir bitte nicht böse.“ Anna war ihr nicht böse. Anna war schwanger.

Im Jahre des Heils neunzehnhundertsieben, am siebten Dezember, brachte die erfolgreiche Kleinunternehmerin Anna S., geborene Glow, eine Gesunden Knaben zur Welt, Rudolfs späterer Vater. Sie nannte ihn Willi und ließ ihn auch so taufen, (er selber nannte sich später Willy, was viel wirkungsvoller war, und es gelang ihm auf nie berichtete und von keiner Behörde je angezweifelte Weise, dieses Y-psilon in alle seine Papiere zu übernehmen).

Anna stillte nur kurz, nahm sich eine spreewälder Amme, und der kleine Willi wurde ein prächtiges Kerlchen. Sein Vater, der Johann-Friedrich, wurde leider ein Kerl, interessierte sich von Mal zu Mal mehr für die Schürzen als für die Blusen, und Anna ließ sich scheiden, noch bevor der große Krieg begann. Er soll wieder eine Frau gefunden haben, die bereit war ihn zu heiraten. Als Rudolf mit seiner Großmutter, es war noch vor der Währungsreform, von einem Bekanntenbesuch, den sie gemeinsam am Reichpietschufer gemacht hatten, mit der S-Bahn zurückfuhren, und wegen ihres innigen Gesprächs auf dem Umsteigebahnhof Friedrichstraße in den falschen Zug gestiegen waren, (Grünau statt Erkner), da stiegen sie beide auf dem tristen Bahnhof Börse gleich wieder aus, um auf den nächsten Zug zu warten. Rudolf war nie zuvor auf diesem Bahnhof ausgestiegen. Er wußte nur, zwischen Börse und Alexanderplatz war früher die Zentralmarkthalle, wo Oma Anders ihr Obst eingekauft hatte, und es gab in dieser Gegend viele Lokale und Kutscherkneipen der verschiedensten Coleur. Sie gingen beide in Gedanken auf und ab, und auf einmal sagte die Oma Wenzel: „Weißt Du eigentlich, daß sich in einem dieser Lokale dort unten Dein Großvater erschossen hat?“ Rudolf war so verblüfft, und gleichzeitig kam der erwartete Zug nach Erkner. Er fragte nicht weiter, wagte es dann auch nicht mehr, weil die Oma schwieg Und so ist dieser Satz die einzige Auskunft für ihn in dieser traurigen Angelegenheit geblieben,

Im Weltkrieg ließ Anna Schwesternblusen für’s Rote Kreuz nähen. Dies vertiefte den normalen Kontakt zur Berliner Schneiderinnung. Als ein vormaliges Mitglied der Innung als Kriegsblinder dort Geschäftsführer geworden war, hatte Anna mit diesem Menschen viel zu tun, wenn sie sich bei der Innung die Zuteilungen besorgte. Der Kriegsblinde Geschäftsführer, ein Herr namens Wenzel, war leider verheiratet. Als ihm während der Inflation die Frau starb und ihn mit drei Kindern – zwei Mädchen und einem Buben – zurückließ, lehnte er sich bei der Anna an. Sie schätzte den Mann. Er war umsichtig, hoch gebildet, sehr belesen. Nach der Inflation heirateten sie und bauten sechsundzwanzig das große Haus in Mahlsdorf in der Kohlisstraße.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 61

– LXI –

Andererseits hat eben alles seinen Preis. Der allmorgentliche Weg zur Arbeit war nun ein erhebliches Stück länger geworden, was schlicht und einfach bedeutete, früher aufstehen zu müssen. Auch damit näherten sich seine Verhältnisse wieder den Gewohnheiten der Vergangenheit an. Jetzt war der Weg morgens fast wieder so weit und so umständlich wie früher die Fahrt vom Landsberger Platz zu Telefunken nach Lichterfelde West. Zu Fuß die lange Kohlisstraße entlang, im Winter, wenn es stockdunkel war, nur bedingt romantisch. Wenn man Glück hatte, stand in Uhlenhorst schon die Straßenbahn in der Wendeschleife und wartete auf den Gegenzug. Da brauchte man wenigstens nicht zu frieren. In Köpenick vor der Unterführung abspringen, die in der Mitte unterteilte „ellenlange“ Treppe hinaufstürmen, denn oben lief meist schon die aus Friedrichshagen kommende S-Bahn ein. Bis Ostkreuz konnte man schlafen, Augen zu und weg. Rudolf konnte ohnehin in jeder Lebenslage „eindrusseln“, das hatte er als zweite Natur bei Preußens gelernt. In Ostkreuz umsteigen, wieder eine Treppe nach oben, zum Ringbahnsteig. Man stieg in Köpenick in den richtigen, in seinen gewohnten Wagen, und landete in Ostkreuz punktgenau am Fuße dieser Treppe.

Morgens kannte jeder jeden, wenn auch nur vom Sehen. Nach Möglichkeit, – mit seltenen und geringen Abweichungen – saß man immer auf dem gleichen Platz. Gegrüßt wurde wenig, höchstens mit einem knappen „morj’n“. Es gab Zeitungsleser, (Berufs)Schularbeitenmacher, mürrische Aus-dem-Fester-Gucker und eben Schläfer. Geredet wurde kaum. In Neukölln erhielt Rudolf Gesellschaft. Hier stieg „die kleine Elisabeth“ zu, ein allezeit fröhliches, liebenswürdiges „Püppchen“. Sie war so alt wie Rudolf, reichte ihm mit ihrem schönen, immer akkurat gepflegten Lockenköpfchen allerdings (leider!) nur knapp bis an die Schulter. Sie liebten einander – auf Anhieb – wie Bruder und Schwester. Sie erzählten sich gegenseitig (fast) alles, nur war die Fahrzeit für die drei Stationen bis Papestraße viel zu kurz. Viel wichtiger war jedoch, daß sie mühelos miteinander schweigen konnten, nebeneinander sitzend, nachdem sie sich herzlich begrüßt hatten, ohne daß sich zwischen ihnen jemals die geringsten Spannungen aufbauten. Fuhr der Zug dann in Papestraße ein, nickten sie sich zu wie ein altes Ehepaar: „Woll’n wir?“ und gingen einträchtig zusammen die Treppen hinunter, gingen – oft untergehakt – die belebte Straße hinüber zur Geneststraße, durch den vertrauten Hauseingang hinauf in den ersten Stock, wo im Vorraum der Elektrowerkstatt die Liste auslag, in die sich vor Arbeitsbeginn jeder eintrug, und die von der Chefsekretärin um sieben Uhr dreißig sekundengenau eingezogen wurde. Wer zuspät kam, mußte bei ihr „scharwenzeln“. Das klappte aber nur in den höchstens fünf Minuten, bis ihr und aller Chef kam, der Betriebsleiter (genannt „Herr Direktor“), der allerdings als disziplinierter Siemensbeamter verdammt pünktlich war, glücklicherweise jedoch nur von mäßiger, wohltuender Strenge. Eine Stechuhr gab es nicht.

Bei Klangfilm gab es für Rudolf fast täglich etwas Neues zu lernen. Schreibmaschinen hatten einen unerbittlichen Qualitätspunkt: Das Schriftbild. Das mußte stehen, „wie eine Eins“. Der größte Trottel konnte es sehen, und dann natürlich auch monieren, falls es zutraf: „Die Buchstaben stehen ja wie eine Sau!“ Da gab es nichts zu deuteln. Ansonsten sind Schreibmaschinen aus Feinmechanikersicht eigentlich „Klapperkästen“, tatsächlich überwiegend funktionierend nach der Maxime: „paßt, wackelt und hat Luft“. Genauigkeit ist schließlich Definitionsache, streng nach DIN. Auf welche Weise etwas „paßt“, wie genau zwei zusammengehörige Teile sich zu einander verhalten sollen, hängt exakt von ihrer genau festgelegten „Passung“ ab. Die Passung bestimmt zweierlei: Zum ersten die jeweils zulässige Fertigungstoleranz (also die Maßabweichung) für jedes der beiden Teile, und zweitens das hieraus resultierende „Spiel“, worunter man die statistisch zuverlässig erwartbare Variation zwischen dem minimalen und dem maximalen „Zwischenraum“ der beiden zu einander passen sollenden Teile versteht. Großes Spiel „klappert“ viel, kleines Spiel jongliert mit den (teuren!) Hundertstel und den (noch teueren) Tausendstel des doch selber schon nicht gerade riesengroßen Millimeters.

Hatte man das Prinzip Schreibmaschine einmal begriffen, war alles „einfach“. Beim Auseinandernehmen „sah“ man ja, wo jedes Teil hingehörte und seinen Platz hatte und auf welche Weise es im speziellen Fall die einzig naheliegende Funktion erfüllen könnte und würde. Es gab nur zuviel kluge und phantasievolle Konstrukteure, die sich im umfangreichen Garten der Konstruktionselemente austoben konnten und sich in den zwanziger und dreißiger Jahren auch ausgetobt haben. Das Know-how für den Mechaniker bestand in großem Maße aus den Kenntnissen der tatsächlich gebauten Variationen. Hinzu kam dann entweder der Qualitätssprung von der in den Kaufhäusern vertriebenen (genial einfachen) „Blechkiste“ namens Orga-Privat, (die dennoch schier unverwüstlich war), bis hin zu den Präzisionsmustern einer „Continental“ oder „Mercedes“, und vor allem der Formenreichtum: Zwischen einer Mercedes mit herausnehmbaren Typenkorb (leicht zu reinigen), einer Continental mit abnehmbaren Wagen (ein Handgriff), einer AEG „Olympia“ mit seitlich angeordneten, senkrecht stehenden Farbbandspulen und vielleicht einer Underwood Reiseschreibmaschine mit versenkbarem Typenkorb lagen eben „Welten“.

Öffnet man dagegen die Rückwand eines Filmprojektors, – zuvor muß man die Ölfüllung ablassen, in der alle seine inneren Teile „schwimmen“ (und damit auch geräuschlos Laufen), – dann wird einem bereits auf den ersten Blick Respekt abgefordert. Hier „klappert“ wahrhaftig nichts mehr. Hier ist „Spiel“ zwischen den ineinandergreifenden Teilen (Zahnräder mit Schräg- oder Evolventenverzahnung, Malteser-Kreuze oder Greifer-Systeme) nun schon fast eine Beleidigung. Zahnflanken gleiten mit der schier idealen Kurvenform aneinander vorbei. Passung ist hier Ausdruck von Unerbittlichkeit. Das Malteserkreuz im gleichnamigen Getriebe, das die ruckweise Fortbewegung des Filmstreifens bewirkt, liegt unverrückbar am Sperring an, so lange, bis der Antriebsstift (eigentlich eine Präzisionsrolle) in den Kreuzschlitz eindringt und das Kreuz, das auf der Achse der Schrittrolle sitzt, die den Film bewegt, um exakt 90 Winkelgrad weiterdreht. Das Spiel zwischen Sperring und Kreuz ist nur noch der engelshaarfeine Zwischnraum, worin der unverzichtbare Hauch eines Ölfilms seinen Platz findet. Feinmechanik ist hier nicht Klein-Mechanik sondern buchstäblich Genau-Mechanik. Auf der Zeichnung steht dann neben der Maßzahl für das Nennmaß „plus-minus 0,001 Millimeter. So etwas kostet Geld, Zeit und Geld: Zeit für die Ausbildung der Leute, für die Konzentration und die schrittweise Annäherung an den gewünschten Fertigungszustand bei der Herstellung, und Geld für die teuren Maschinen, für die Löhne der Facharbeiter, für die nur schwierig reduzierbare Gesamtdauer des Produktionszyklus und für die unverzichtbare Qualitäts- und Fertigungskontrolle. Hier wird nur toleriert, was auf der Zeichnung steht. Alles andere ist dann eben „Ausschuß“, basta!

Solche Verhältnisse formen dann auch Menschen. Wenn Rudolf sich der Meister erinnert, der Vizemeister, der Lehrgesellen, Vorarbeiter und Prüfmechaniker, deren Augen, mit oder ohne Brille, schauten kritisch-skeptisch prüfend und unbestechlich in die Welt. Ihr Urteil war nie voreilig, immer abwägend, stets bestrebt, das vorgegebene Qualitäts- und Funktionsziel „am Gerät“ punktgenau zu erreichen. Träumen galt nicht; sich nichts vormachen und sich nichts vormachen lassen, war die unausgesprochene Losung. Sie standen und dachten senkrecht, und ein Angeber hatte bei ihnen keine Chance. „Pfuscher“ war ein Verdammungsurteil, verhaltener Stolz das einzig Zulässige.

Was bei der Schreibmaschine das Schriftbild, ist beim Projektor der Bildstand und beim Lichtton- oder Tonband-Gerät die möglichst absolute Laufruhe und gleichförmigkeit der Bewegung des Films. Steht bei offener Rotationsblende der Film im Bildfenster nicht tatsächlich still, dann schütteln die Zuschauer im Kino die Köpfe, stöhnen unwirsch und verlassen den Saal, um sich ihr Geld wiedergeben zu lassen. Beim Tongerät dagegen (Licht- oder Magnet-Ton) darf keine Filmlaufschwankung eintreten, kein Schlupf, keine Ungleichförmigkeit. Die beiderseitigen Zähne der Antriebsrollen ziehen den Film mit Kraft, die an den Perforationskanten auf den Film übertragen wird, gleichmäßig durch die gesamte Apparatur. Nur am Bildfenster sorgt das Malteserkreuz (oder ein Fingergreifer) dafür, daß der Film vierundzwanzig Mal in jeder Sekunde mucksmäuschenstill stehen bleibt. Genügend große freie Schleifen vor und hinter dem Bildfenster sorgen für den Ausgleich zwischen der gleichförmigen und der ruckweisen Bewegung. Für die Tonrolle reicht die damit bewirkbare Konstanz der Bewegung nicht aus. Die Tonrolle hat keine Antriebszähne. Durch geeignet angeordnete Umlenkrollen sorgt man dafür, daß der Film die Tonrolle möglichst weit umfaßt (mindestens 270 Grad). Die Tonrolle läuft nicht in Gleitlagern, sondern auf ausgesuchten Präzisionskugellagern. Auf der Achse der Tonrolle sitzt eine mehrere Kilo schwere Schwungmasse. Diese Schwungmasse, muß so genau ausgewuchtet sein, (werden!, denn sie ist es nicht, trotz aller Formgenauigkeit, von sich aus; man muß es durch schrittweise Annäherung bei der Montage „Bewirken“), und sie muß in den Kugellagern so „reibungslos“ laufen, daß ein Gewicht von einem Viertelgramm (Plastelin), befestigt am äußersten Umfang der Schwungmasse, das System „mühelos“ in Bewegung versetzen kann! Diese Arbeit erfordert eine Geduld, Ausdauer und Können, die auch „Engel“ nur bei guter Behandlung (sprich: Bezahlung) aufzubringen imstande sind.

Die Erzählung schreibt noch neunzehnhundertsiebenundvierzig. Noch mußte gewaltig improvisiert und kompensiert werden. Kompromißlose Kompromißbereitschaft war das Panier. Der Meister kam und fragte: „Können wir das?“, und er meinte damit: Art der vorhandenen Maschinen und deren Zustand, Lagerbestand an Material (einschließlich Zugriffsmöglichkeit bei der armen großen Mutter Siemens) und auch die Phantasie und Einsatzfreude seiner Leute. Die Antwort aus zögerndem, sich selber Mut machendem Munde lautete dann: „Wir werden es schon hinkriegen.“

Auch bei Armut schreitet der Fortschritt voran; der Lauf der Welt sorgt dafür. Kommt eines schönen Tages der Leitende Konstrukteur, legt etwas auf den Tisch. Rudolf: „Was ist das denn?“ Der Reißbrettfritze (ein Pfundskerl, den alle mochten, weil er jeden Einwand, auch vom kleinsten Mann, ernsthaft prüfte) frozzelte: „Schaun sie sich’s an, man kann es ja anfassen, es beißt nicht.“ Es war ein Filmstreifen, statt 35 Millimeter nur halb so breit, die Perforation nur einseitig, das Ganze Kaffeebraun und völlig undurchsichtig. Ein Spaßvogel hatte eine Schere genommen, den üblichen Kinofilm der Länge nach in der Mitte durchgeschnitten und mit Metalloxyd beschichtet; es war magnetisierbarer „Splitfilm“. Zu fragen, was soll das Ganze, erübrigte sich, die Chose erklärte sich sozusagen von selber. „Wo sind die Zeichnungen?“ wagte Rudolf zu fragen, obgleich er das „Kästchen“ mit den passenden Lauf- und Umlenkrollen schon in etwa vor sich sah. „Das vorgesehene Gußgehäuse aus Hydronalium (eine form- und witterungsbeständige Alu-Legierung) kommt nächste Woche; auch der Körper für die Schwungmasse; den müßt ihr ausdrehen, dann wird er mit Blei ausgegossen und fertig nachgearbeitet. Tonrolle, Antriebs- und Umlenkrollen müssen Sie halbieren; das können sie schon mal vorbereiten; Skizzen für die ungefähren Rahmenmaße bringe ich Ihnen; wir brauchen das Ding in vier Wochen; alles klar?“

So entstand bei Klangfilm in Berlin das erste deutsche Magnet-Tongerät für Splitfilm zur Verwendung im ehemaligen UfA-Atelier in Tempelhof. Friedel Behn-Grund, der berühmte Kameramann und seine Tonmeister werden es verwendet haben. Rudolf hatte zwar seinen höflichen Brief, den Menschen aber hat er nie zu sehen bekommen. Die kleine Elisabeth fragte ihn morgens in der S-Bahn: „Du bist ja so heiter; warum strahlst Du so?“ Hoppla, dachte Rudolf, merkt man das? Und er antwortete etwa (mit „stolzgeschwellter“ Brust): „Mädchen, es geht aufwärts. Wir marschieren mit an der Spitze des Fortschritts.“ Die kleine liebliche Seelenfreundin schaute ihn skeptisch an: „Bist Du sicher?“ Na ja, sicher kann man nie sein.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 60

– LX –

Die Familie in der Weichselstraße war von der plötzlichen, unerwarteten, vorher nicht einmal angedeuteten Wendung, die Rudolfs Auszug für alle bedeutete, doch ziemlich überrascht. Sie freuten sich uneingeschränkt mit ihm, schließlich brauchten sie jetzt nur noch zu viert dieses Zimmer zu teilen. Ein Hauch Neid schwang auch mit bei allen Freudenbekundungen: Ein Zimmer für sich ganz allein, man höre und staune. Richtig fassen konnte er es ja selber nicht. Doch an Gutes gewöhnt man sich schnell.

Die Mutter packte alle seine Sachen ein und brachte ihn runter bis an die Haustür. Da waren ihrerseits noch fragen, die sie ihm doch nur stellen konnte, wenn die anderen nicht dabei waren. Es ging nicht um Geheimnisse, aber niemand sollte gekränkt oder irritiert werden. Der Schwebezustand zwischen zwei Familien hatte Rudolf wieder eingeholt, ausgelöst durch seine eigene Entscheidung. „Wie geht’s dem Willy, Deinem Vater?“ war Mutters erste Frage. Rudolf war darauf vorbereitet. Es war immerhin die Frage nach „ihrem“ Willy, nach ihrer Jugendliebe. Rudolf kannte alle ihre Gefühle in dieser Richtung, ihm gegenüber hatte sie nie ein Hehl daraus gemacht, schon nicht, als er nun wirklich noch Kind war. „Werde nur mal nicht wie dein Vater“ war der Tenor aller ihrer Gespräche über diesen Willy, der sein Vater war.

Wenn Rudolf sonntags zu ihr gekommen war, nachmittags, nach der Kinovorstellung im Merkur-Palast, Onkel Bruno spielte dann draußen in Treptow, im Paradiesgarten, und die beiden Jungen spielten noch auf der Straße, immer hieß es zuerst, ob er etwas aus Mahlsdorf, etwas von oder über Willy gehört hätte. Nun aber, nach dieser neunjährigen familiären Funkstille, die durch seinen impulsiven Besuch in Mahlsdorf so abrupt beendet war, nun wußte er vorerst auch nicht viel mehr zu berichten, als daß ihr Willy lebt, Er lebte mit seiner zweiten Frau und seinem Kind in Wiesbaden, war bei einer im Aufbau befindlichen Behörde der geplanten Zentralregierung „Referent“, was immer das auch sein mochte, und würde voraussichtlich im November nach (West)Berlin kommen, wo eine Kontaktstelle seiner Behörde zu den Alliierten bestand oder ebenfalls aufgebaut wurde. Er würde – wie öfter schon – mit dem regelmäßigen, dem verschlossenen Militärzug kommen. Wohnen würde er bei der Schwester seiner Frau im Westen der Stadt, deren Mann der Hausverwalter im ehemaligen Reichsversicherungsamt war, das die Bombenabwürfe auf Berlin und auf das Diplomatenviertel im Tiergarten so gut wie unbeschadet überstanden hatte. Bei diesem Besuch würde er gewiß auch seine Mutter in Mahlsdorf besuchen, wie er es stets getan hatte. All diese Neuigkeiten interessierten die Mutter. Sie saugte sie auf wie der Schwamm das Wasser. Wie das Haus in Mahlsdorf, die Wohnung und sein Zimmer aussahen, das nahm sie wohl zur Kenntnis – obgleich sie selber nie in Mahlsdorf, bei ihrer erhofften Schwiegermutter gewesen war – und kam doch immer schnell wieder auf den Mann zurück, den sie haßte, weil sie ihn liebte.

Ihr Abschied voneinander war schließlich keine Trennung. Er würde – wie früher – an Sonntagen zu ihr kommen, wenn auch gewiß nicht an jedem. Er würde sie teilhaben lassen an seinem neuen Leben, und sie wußte das. Sie hatten damit ihr von früher eingefahrenes Verhältnis wieder begründet. Dennoch weinte sie, als er mit seinen Sachen in Richtung Bahnhof Ostkreuz ging. Zwei Jahre hatten sie als Familie zusammengelebt. Ein Jahr, die Hälfte dieser Zeit, war er sogar der „Ernährer“ gewesen. Die Brüder waren täglich um ihn gewesen, und dies war ein schöner Zustand, ein schönes Gefühl, nicht nur, wenn er jetzt daran zurückdachte, nein, auch als gelebtes Leben. Wie sehnsüchtig hatten die beiden aus dem Fenster geschaut, wenn er aus der Schreibmaschinen“bude“ mittags zum Essen nach Hause kam. In der Ofenröhre stand die Suppe, oft nur aus ein paar geriebenen Kartoffeln, oder eine Mehlsuppe, doch die beiden warteten eisern auf ihn, damit er das Essen gerecht austeile. Oft hatten sie miteinander gefrozzelt, wenn es etwas zu teilen gab, wie zu teilen sei: christlich, brüderlich oder gerecht. Christlich hieß, der Teiler bekam den geringsten Anteil. Das Gegenteil davon hieß brüderlich, hatte mit Funktionsmacht zu tun und fand mehr auf der Straße statt, zwischen den symbolischen „Brüdern“, mit denen man spielte oder Streiche ausheckte. Das Essen mittags wurde gerecht geteilt, Kelle für Kelle, Löffel für Löffel. Der kleinste durfte den Topf auskratzen. Und die allwöchentlichen Kinofahrten nach Neukölln, die für Rudolf und den großen der beiden, den mittleren also, zur schönen Gewohnheit geworden waren, wären nun ebenfalls ein Stück Vergangenheit. Doch das Aufschwungs- und Schwebegefühl in Rudolf war stärker als alles andere.

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