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Kategoriale Annäherung an die Doppelwelt der Kategorien

  1. Zum Verstehen ist nun wohl alles Einsehbare gesagt. Zum Begreifen möchte ich dennoch wagen – und bitten, mir zu gestatten – noch einmal kurz auf Nicolai Hartmanns kategoriale Suchgeste hinzuweisen:

    Hartmann lässt seinen suchenden Blick auf die Prinzipien der Prinzipien des Erkennens – über die sich wandelnden Erkenntnistheorien hinaus – hingleiten herkommend vom sich als Erkenntnis gebenden Mythos über dessen langsam immer kritischer werdenden Anzweifelns eines Platons oder Aristoteles, über den langen Suchweg der Scholastik, die erst einmal Kategorien der Einteilung des Erkennens brauchte, um sich selber dogmatisch zu festigen, bis dann die Kritik – sich positivierend – selber die dogmatisierten Kategorien kritisch durchmusterte bis hin, über Thomas, zu Kant, der die Kategorien dann transzendalisierte, was sich schliesslich und endlich herausstellte als der unaufhaltsame Beginn ihrer Historisierung:

    Über die menschlich praktisch unabweisbaren Grundkategorien von Raum und Zeit hinaus, die dem unreflektiertesten Steinzeitmenschen zum Überleben in Fleisch und Blut eingeschrieben waren (jagdbar oder nicht, findbar oder nicht, essbar oder nicht), verstärkt um einen wenn auch noch schwer durchschauten Begriff von Kausalitäten als für alle Jagdplanung unverzichtbare Überlegungen wie Wann durch Was und Womit für ein überschaubares Wozu, schrittweise wurde eben immer klarer, deutlicher und damit auch deutbarer, die Welt solle nicht nur kein Chaos sein, sie könne es wohl auch gar nicht sein, wenn sie aus sich heraus Bestand haben wolle. Man vermutete Ordnung, also suchte man sie und fand sie auch. Dann wurde aber bald klar: die sich schrittweise wie von selber ordnende Ordnung des Erkennens geriet in ein Wechselspiel mit den aufgefundenen Kategorien des Aufbaus der realen Welt: je mehr man von der Welt und ihren Zusammenhängen begriff, umso diffiziler wurde das, was man von der Welt zu sagen wusste. Es war zwar leicht zu sehen, und damit auch einzusehen, dass das Wissen sich verfestigte und der Umfang an Gewissheit damit auch zunahm, aber es war bald mit Erschrecken sichtbar und erkennbar: das nicht Gewusste, auch wenn mann optimistisch annahm, es sei verminderbar, würde wohl immer wieder doch schneller anwachsen als das beweisbar und einsehbar Gewusste.

    Wenn die Welt die Hardware sein sollte und die Fülle der stetig anwachsenden Erkenntniskategorien die dazu passende Software, dann war bald klar, es musste täglich und unermüdlich an der Software weitergeschrieben werden, um mit dem wachsenden Erkenntniswandel über die unabweisbaren Fakten der Hardware Schritt halten zu können.

    Das geht dann eigentlich heute so weit, dass der oft zu hörende Vorwurf, es sei irgendwo ein Kategorienfehler in einer Argumentationskette im Spiel, nicht mehr als ehrenrührig angenommen werden musste, denn wer wollte schon so vermessen sein (man denke an Microsoft und ihren Weg vom Quellcode zu Window 8), eine lückenlose Expertise abzugeben über Aufbau und Anzahl und systemischen Zusammenhang aller zur Beschreibung komplexer Sachverhalte erforderlicher Sach- und Beschreibunskategorien. Auch das mag mithin ein Grund sein, es im Alltag schnell einmal Fünfe gerade sei zu lassen, weil eine vollständige Kategorienanalyse viel zu rechenaufwendig wäre, von Zeit und Geld zu schweigen.

    Auch diese bruchstückhaften Überlegungen zeigen, dass man das Etikett Arroganz ins Museum des selbstbewussten und scheinbar unschlagbaren Bildungsbürgers verbannen darf. Arroganz aus ad rogare: kräftig und selbstbewusst zulangen (in einem Amt oder auf einem Katheder) gehört nun doch endgültig auf den rogus, den Scheiterhaufen der Lächerlichkeit.

    dieterbohrer – 14. Dezember 2012 um 22:15

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  1. Zum Verstehen ist nun wohl alles Einsehbare gesagt. Zum Begreifen möchte ich dennoch wagen – und bitten, mir zu gestatten – noch einmal kurz auf Nicolai Hartmanns kategoriale Suchgeste hinzuweisen:

    Hartmann lässt seinen suchenden Blick auf die Prinzipien der Prinzipien des Erkennens – über die sich wandelnden Erkenntnistheorien hinaus – hingleiten herkommend vom sich als Erkenntnis gebenden Mythos über dessen langsam immer kritischer werdenden Anzweifelns eines Platons oder Aristoteles, über den langen Suchweg der Scholastik, die erst einmal Kategorien der Einteilung des Erkennens brauchte, um sich selber dogmatisch zu festigen, bis dann die Kritik – sich positivierend – selber die dogmatisierten Kategorien kritisch durchmusterte bis hin, über Thomas, zu Kant, der die Kategorien dann transzendalisierte, was sich schliesslich und endlich herausstellte als der unaufhaltsame Beginn ihrer Historisierung:

    Über die menschlich praktisch unabweisbaren Grundkategorien von Raum und Zeit hinaus, die dem unreflektiertesten Steinzeitmenschen zum Überleben in Fleisch und Blut eingeschrieben waren (jagdbar oder nicht, findbar oder nicht, essbar oder nicht), verstärkt um einen wenn auch noch schwer durchschauten Begriff von Kausalitäten als für alle Jagdplanung unverzichtbare Überlegungen wie Wann durch Was und Womit für ein überschaubares Wozu, schrittweise wurde eben immer klarer, deutlicher und damit auch deutbarer, die Welt solle nicht nur kein Chaos sein, sie könne es wohl auch gar nicht sein, wenn sie aus sich heraus Bestand haben wolle. Man vermutete Ordnung, also suchte man sie und fand sie auch. Dann wurde aber bald klar: die sich schrittweise wie von selber ordnende Ordnung des Erkennens geriet in ein Wechselspiel mit den aufgefundenen Kategorien des Aufbaus der realen Welt: je mehr man von der Welt und ihren Zusammenhängen begriff, umso diffiziler wurde das, was man von der Welt zu sagen wusste. Es war zwar leicht zu sehen, und damit auch einzusehen, dass das Wissen sich verfestigte und der Umfang an Gewissheit damit auch zunahm, aber es war bald mit Erschrecken sichtbar und erkennbar: das nicht Gewusste, auch wenn mann optimistisch annahm, es sei verminderbar, würde wohl immer wieder doch schneller anwachsen als das beweisbar und einsehbar Gewusste.

    Wenn die Welt die Hardware sein sollte und die Fülle der stetig anwachsenden Erkenntniskategorien die dazu passende Software, dann war bald klar, es musste täglich und unermüdlich an der Software weitergeschrieben werden, um mit dem wachsenden Erkenntniswandel über die unabweisbaren Fakten der Hardware Schritt halten zu können.

    Das geht dann eigentlich heute so weit, dass der oft zu hörende Vorwurf, es sei irgendwo ein Kategorienfehler in einer Argumentationskette im Spiel, nicht mehr als ehrenrührig angenommen werden musste, denn wer wollte schon so vermessen sein (man denke an Microsoft und ihren Weg vom Quellcode zu Window 8), eine lückenlose Expertise abzugeben über Aufbau und Anzahl und systemischen Zusammenhang aller zur Beschreibung komplexer Sachverhalte erforderlicher Sach- und Beschreibunskategorien. Auch das mag mithin ein Grund sein, es im Alltag schnell einmal Fünfe gerade sei zu lassen, weil eine vollständige Kategorienanalyse viel zu rechenaufwendig wäre, von Zeit und Geld zu schweigen.

    Auch diese bruchstückhaften Überlegungen zeigen, dass man das Etikett Arroganz ins Museum des selbstbewussten und scheinbar unschlagbaren Bildungsbürgers verbannen darf. Arroganz aus ad rogare: kräftig und selbstbewusst zulangen (in einem Amt oder auf einem Katheder) gehört nun doch endgültig auf den rogus, den Scheiterhaufen der Lächerlichkeit.

    dieterbohrer – 14. Dezember 2012 um 22:15

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Das 12 zu eins Märchenfestival

Es war – zunächst einmal – ein verrückte, eine aus den sozialen Fugen geratene Welt. In ihrer einen Hälfte herrschte ein nicht wegzuleugnender Wohlstand, die Leute waren frei, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt. In der anderen Hälfte herrschte , wie nach alter Sitte, Mord und Todschlag, die Menschen hungerten, viele hatten nicht einmal reines Wasser zum Trinken.

So paradox es klingen mag: Diese Welt war zumindest verbunden und – scheinbar – wie geeint durch eine doppelte Erfindung: das sogenannte Internet mit seinem world wide web und vielen anderen verrückten Auswirkungen und Auswüchsen, sichtbar modelliert durch die sich selber so nennenden Sozial Media Veranstaltungen. Das war etwas wie Clubs, oder – weniger vornehm – wie Vereine oder gar Selbsthilfegruppen. Die verrückteste, aber auch die lustigste unter ihnen war eine Gruppierung der geselligen Zwitscherei und verbalen Knuddelei (bis Knutscherei), die sich Twitter nannte und sich zu ihren leicht einprägsamen Logo ein kleines, spatzenhaftes blaues Vögelchen gekürt hatte.

Dort bei Twitter schaltete mensch sich mehrmals täglich ein, scrollte die sogenannte Timeline – die für jeden Teilnehmer vollkommen individuell und personenspezifisch war – einmal rauf und runter und versuchte, der Kommunikationstheorie des Jura-Soziologen Niklas Luhmann entsprechend, einen kurzen plausiblen aber sinnvollen und vor allem anschlussfähigen kleinen Text zu verfassen, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit – also das kostbarste Gut – der anderen Teilnehmer zu gewinnen. Der Clou: solch eine Botschaft, also eine Kurznachricht, war streng begrenzt auf sage und schreibe nur 140 Zeichen, (Leerzeichen mitgemitgezählt).

Bei diesen unverrückbaren Auspizien und Gegebenheiten hatte sich – durch rund 44.000 Tweets ein schon etwas älterer Twitterer mehr oder weniger bekannt gemacht. Er schrieb – meist – vernünftige Sachen, auch wenn es ja nicht mehr als zwei Sätze sein konnten. Er nannte sich mit seinem nome de guerre, seinem Spaßnahmen, ‚Der Berliner‘, und er hatte bei vielen Mittwitterern durchaus Anklang und Zustimmung gefunden, insbesondere bei den Frauen. Das lag vor allem daran, dass er gerne Komplimente machte, mit Worten schäkerte und vor allem, dass er gerne andere Menschen lobte und ihr Tun und Können achtete und beachtete.

Im Laufe der gemeinsamen Twitterzeit hatte sich – aus der sicht des Berliners, (der sich auch manchmal anders nannte) – eine von ihm präferierte Damenriege ‚herausgemendelt‘, die sich streng auf zwölf Teilnehmerinnen begrenzte, wie etwa die geheimnisvollen zwölf Märchennächte um Weihnachten herum.  Hier wäre nun nachzutragen: der Berliner war wirklich und tatsächlich in Berlin geboren, und zwar an einem – mensch glaube es oder nicht  – an einem 24. Dezember.

Wie das Schicksal so spielt, der Berliner war ein großer Träumer und Romantiker. Ihm gingen oft die verrücktesten Gedanken durch den immer grübelnden Kopf, in dem das sogenannte Kopfkino die tollsten Volten schlug. Er hatte mal eine Zeitlang, mit einem damaligen Kollegen zusammen, Lotto gespielt, aber viel gewonnen hatten die beiden nie, meist – wenn überhaupt – nur drei Richtige, ganz selten auch einmal vier. Der Berliner dachte sich eines Tages – zwischen zwei Twitterrunden – warum soll ich nicht noch einmal versuchen, bei diesem Lotto mein kleines Glück zu machen? Und wie es allen manchmal entschlossenen Scchüchternen so geht: Er gewann. Das war schier unglaublich, denn er gewann schon beim allerersten Anlauf nicht gerade eine Million, aber doch einen größeren Betrag, der sofort in ihm die Phantasie zum Aufschäumen brachte. Ach, dachte er – sich denkend und probierend im Kreise drehend – was könnte mensch nun nicht alles mit diesem Geld anfangen: Eine Reise? Ein neues Auto? Nein, dachte ers sich, ein Fest soll es werden, ein Liebes-Festival für und mit seinen zwölf Traumfrauen. Den Moralisierern wird hier sogleich in aller Schärfe und Besonnenheit entgegen gerufen: Ein Freudenfest in aller gebotenen Artigkeit, voller Phantasie und schwesterlicher Gemeinsamkeit. Das war er doch seinen zwölf auserwählten und damit auch ausgezeichneten Twittergrazien schuldig.

Gedacht, getwittert, getan: Er ging ans Werk, denn alles, was auch schön sein soll, muss dennoch immer sachlich, vernünftig und vorausschauend organisiert sein. Klar war ja allen infrage kommenden Personen: Wenn sie Teilnehmerinnen sein sollten, dann war vor allen zu bedenken: diese liebenswürdigen Frauen lebten ja – eine jede für sich – verteilt in ganz Deutschland. Allerdings war zunächst einmal grob davon auszugehen: Keine würde wohl wesentlich mehr als dreihundert Kilometer von Ihn entfernt wohnen. Aber: es war ja gar nicht notwendig – und auch nicht vorgesehen – dass man sich beim Ihm treffen würde. Es galt also einen mittelgroßen Ort mit großstädtischem Ambiente zu finden, der Mitten in Deutschland lag und für alle zu Beteiligenden etwa im Rahmen der angedachten 300-Kilometerzone zu bequem und in höchstens drei Stündiger Fahrt zu erreichen sein würde. Ein Blick auf einen Autoatlas zeigte: Diese Stadt könnte zwar Hannover sein, wäre aber vielleicht zu groß und zu wenig romantisch, besser vielleicht Hildesheim, mit dem tausendjährigen Rosenstock, oder die alte Kaiserpfalz Braunschweig, die Stadt Heinrichs des Löwen.

Der Berliner entschied sich, nachdem er er vielversprechendes kleines gut gepflegtes Hotel mit mindestens fünfzehn Zimmern gefunden hatte, das auch einen entsprechend großen Speisesaal hatte, für das Städtchen B. An der Rezeption meldete sich eine gut artikuliert und klug sprechende Dame, und es war auch glücklicherweise gleich die Chefin des besagten Hauses. Ber Berliner trug ihr seine Idee vor, und sie war begeistert: Ein Treffen zwischen zwölf Damen, die sich – generell – (noch) nicht kannten, die aber – von Twitter her – wussten, wer sie alle miteinander waren, und dazu dann – als der so oft und viel besungene ‚Hahn-im-Korbe‘ ein Mann, der sich zutraute, zwölf Frauen wenigstens an einem Tag zu unterhalten, zu beköstigen und somit glücklich zu machen. Die Hotelchefin erklärte, man sei bekannt und renommiert, wenn auch nicht überlaufen, und in Bezug auf den potentiellen Termin sei sie äusserst flexibel. Er, sozusagen der Veranstalter, er müsse es nur selber übernehmen, die zwölf Damen zeitlich zu koordinieren.

Das war ja über Twitter kein Problem. Er annoncierte also zunächst einmal: Begrenzte und geschlossene Gesellschaft für einen heiteren Tag in B. im Hotel Z. geplant. Dann schrieb er ein kurzes Szenario, fotografierte es und hing es leicht lesbar – über Instagram an einen weiteren Erläuterungstweet dran. Zusätzlich unterrichtete er jede Dame einzeln über eine sogenannte DM über seine Idee und seinen Plan. Zur Ehre der Damen sei gesagt, sie fanden seine Idee zunächst einmal ‚ganz passabel‘. Und das war dann schon mal die halbe Miete. Man muss bedenken, dass es sich bei diesen von ihm verehrten Frauen nicht etwa durch die Bank um ledige Damen handelte. Es waren auch verheiratete gestandene Weltversteherinnen darunter. Und es war ja ohnehin davon auszugehen, dass auch die ledigen Vögelchen ein eigenes Nest hatten und gebunden waren. Es gab zwar – zugegeben – ein ziehmlich ellenlanges Hin und Her, aber dann war frau soweit: Der Berliner hatte ihrer aller allgemeine Zustimmung, mensch fand einen für alle genehmen Termin, der auch mit den Möglichkeiten des ins Auge gefassten Hotels korrespondierte, und dann wurden Nägel mit Köpfen gemacht:

Zwölf Frauen und ein Mann treffen sich am … in B. … im Hotel Z. Reisekosten werden vom Einladenden selbstverständlich erstattet, ebenso alle im besagten Hotel anfallende Kosten für Unterkunft, Verpflegung und – vor allem – für die Getränke. Am Anfang sollte ein Sektempfang stehen, den wollte sogar die Hotelchefin übernehmen. Dazu wurde ein Fünf-Gänge-Menue geplant und in Auftrag gegen, nachmittags würden alle Kaffee trinken und aus einer Kuchenauswahl sich bedienen können, zum Abendessen würde es – der Jahreszeit entsprechend – ein Spanferkel geben. Und dann stünde dem Geplauder bis in die Nacht hinein nichts im Wege. Die Hotelchefin schlug vor, einen Barpianisten zu bestellen, der für leise Hintergrundmusik sorgen könnte, aber das wurde verworfen. Dezente Radiomusik, ganz leise im Verborgenen, sie würde das temperamentvolle Gerede der zwölf Damen – sie sich ja alle viel zu sagen hätten – nicht beeinträchtigen. Der einzelne Herr würde zwar – schon altersmäßig – den Vorsitz an der Stirnseite der Tafel übernehmen, hier und da kleine Anregungen geben, sich im übrigen aber artig zurückhalten.

Es entstand eine geradezu irrsinnige Stimmung der Vorfreude. Es wurde allseits getwittert, was das Zeug hielt, und diese Runde der Dreizehn fand mit ihrer Planung und Vorbesprechnung überraschenderweise sogar die teilnehmende Zustimmung der anderen Twitterer auf dieser Timeline.

Dann war es soweit: Der von allen mit – mehr oder weniger – klopfendem Herzen erwartete Tag, ein Wochende, kam heran. Eine Dame nach der anderen traf am vereinbarten Ort ein, Wurde von der reizenden Hotelchefin begrüsst, eingescheckt und bekam ihr Zimmer zugewiesen. Was die Damen nicht wussten – und nicht wissen sollten – der Berliner war schon seit zwei Tagen im Hotel, für alle Fälle, um etwaige Pannen zusammen mit der Chefin vorsorglich auszubügeln. Er saß in seinem Zimmer, eine Zweiraum-Suite, und stand ständig mit der Rezeption in Verbindung. Aber es klappte alles wie am Schnürchen: spätestens gegen halb zwölf waren alle Damen eingetroffen, hatten sich auf ihren Zimmern frisch gemacht, und die meisten hatten schon einmal einen Erkundungsgang durch die auf sie wartenden Hotelräume gemacht, sich einander bekanntmachend, wobei die Chefin behilflichw war. Dazu hatte der Berliner ein Passwort ausgegeben, eine Losung, die es einer jeden Dame ermöglichte, die anderen beteiligten Damen zu erkennen. Diese Parole hieß ‚Glücklichsein‘.

Um zwölf Uhr dreißig wurde zum Mittagessen geläutet. Es gab Spargelkremesuppe, ein kleines Fischgericht, (gebackener Nordseelachs) und als Hauptgericht war Zürcher Geschetzeltes vorgesehen. Die Nachspeise würde eine Jede à la Carte frei selber wählen können. Zum Abschluss dann der obligatorische Mocca oder Espresso.

Der Berliner betrat den Speisesaal erst, als die Damen schon dabei waren, ihre Suppe artig zu löffeln. Es gab ein Riesenhallo. Von weiteressen war zunächst einmal nicht mehr die Rede. Der Berliner, den alle Damen ja von dem Foto auf seiner Homepage kannten, er ging die Reihe herum, von Platz zu Platz, von Dame zu Dame, sah allen glücklich in ihre schönen funkelnden Augen und küsste ihnen – zart angedeutet – die Hände. Er trug eine dunkelblauschwarze Hose, dazu graue Socken und ein paar elegante italienische Slipper. Dazu ein eierschalenfarbiges Oberhemd und eine dazu passsende französische Seidenkrawatte mit dezentem Türkenmuster. Ein silbergrau schimmerndes reinseidenes Sakko italienischer Machart war sein abschliessender Anzug. Die Blicke der Damen – SEINER Damen – ruhten anerkennend auf seiner unaufdringlichen Erscheinung. Dann setzte er sich zu ihnen an seinen Platz als der Vorsitzende, ein leichter Mosel – zum Fisch – wurde reihum eingeschenkt von zwei reizenden jungen Damen in Schwarz mit mit weisser Zierschürze und weissem Häubchen. Und falls irgendwo ein kleiner Rest an verständlicher Verlegenheit sich gehalten haben sollte, im fröhlichen allgemeinen dezenten Geplauder begann die herzliche Woge des inneren Sichfreuens aller allen jede Befangenheit zu nehmen.

Jetzt lässt der Erzähler diese einmalige Runde erst einmal in aller Ruhe zu Ende essen und trinken. … Solch eine Unterbrechung darf ja nicht ewig dauern – auch nicht uf der Erzählebene, geschweige denn in der (fiktiven) Realität. Überdies bat mich soeben eine sympathische Dame, (die nicht zum Kreise der Zwölfe gehört, ihn aber gerne beäugt), ich solle doch – bitte – die Geschichte weiter erzählen. Nun, ich will es gerne versuchen:

Als die abendliche Stimmung auf dem Höhepunkt war, und als abzusehen war, bald sei der Schlummertrunk angesagt, da stand urplötzlich die Frage im Raum, (wohlgemerkt aufgeworfen im Kreise der Damen; der „Berliner“ hielt sich da ganz dezent zurück): Sollen wir (also die Damen) ‚IHN‘ alleine in seinem Bettchen schlafen lassen, oder liesse sich auch denken, irgendeine Art Revanche für diese schöne Einladung sich auszudenken. Es begann ein allgemeines Palaver, wodurch die Damen schnell vergaßen, sie verhandelten ja über Jemanden, der in ihrem illustren Kreise anwesend war. Die Freimütigkeit und überraschende Offenherzigkeit der weiblichen Debatte brachte den einzigen anwesenden Herrn mehrfach in Verlegenheit, er wurde rot auf den sauber rasierten Wangen, aber er liess sich das alles nicht anmerken.

Dann hatte frau ein Ergebnis: Alleine schlafen soll er nicht, wir werden ihn unter den Zwölfen verlosen. Die Hotelwirtin hatte schon eine Weile daneben gestanden und interessiert gelauscht. Sie erklärte sich sofort bereit, eine kugelige Glasschale mit den schnell angefertigten Losen herbeizuschaffen. Auf den eingerollten Loszetteln sollten aber keine Namen stehen, sondern nur die Zimmernummer der jeweiligen Dame. Alle waren einverstanden, also ruck-zuck stand die Glasvase mit den Losen auf dem Tisch. Was keinem der Anwesenden auffiel – weil ja keiner Nachzählte – es waren nicht zwölf Lose in der Vase, sondern: 13 ! Die Hotelwirtin, eine adrette liebenswürdige Dame, hatte ein Los mehr in die (Wag)Schale geworfen, (wenn mensch so sagen will). Dann schob eine entschlossene weibliche Hand das Lotteriegefäss vor den Herrn und alle forderten einstimmig, er solle, bitte, kurz und entschlossen, eines der Lose ziehen. Er wurde verlegen, aber ausweichen war ja nun nicht mehr möglich. Mit leicht zitternder Hand griff er in die durchsichtige Vase, mischte die darin enthaltenen Lose anstandshalber noch ein wenig, und griff dann doch entschlossen eines der Lose heraus.

Plötzlich schwieg die Runde. Öffenen Sie, öffenen, riefen alle, und der Berliner entrollte dezent sein los. Es stand tatsächlich nur eine Ziffer auf dem Lospapier. Diese Ziffer sagte ihm natürlich gar nichts. Und er weigerte sich, diese Nummer zu nennen. Das akzeptierten dann schliesslich auch alle Anwesenden. Die Hotelwirtin verschwand flugs mit der Lotterievase und verschloss sie im Hotelsafe. Der Schlummertrunk wurde gereicht und getrunken, alle küssten einander auf beide Wangen und die leicht beschwippsten Damen verschwanden auf ihre Zimmer auf den verschiedensten Stockwerken. Zurück blieben der einzelne Herr und die Hotelchefin, die ihm freundlich zulächelte. Auch der Berliner verabschiedete sich und merkte erst jetzt, in welcher Falle er nun saß. Denn so oder so, ob er sein Los nutzte oder nicht, am nächsten Morgen würden die Damen am Frühstückstisch einen Bericht von der Gewinnerin anfordern, das war ihm schon klar.

Als auf den Hotelfluren nur noch die Nachtbeleuchtung die Gänge erhellte, machte er sich auf den Weg, das Zimmer zu finden mit der von ihm gezogenen Losnummer. Es war – seltsamerweise, aber das fiel ihm eigentlich gar nicht so richtig auf – im Erdgeschoss. Er verglich noch einmal die Zahl auf seinem Zettel mit dem Nummernschild auf der Tür, dann klopfte er. Ein zartes ‚Herein‘ liess ihn eintreten: Nun aber war er doch verblüfft: im Bett lag – einladend lächeln – die Hotelwirtin ! Und lachend bekannte sie: ich habe einfach auf alle Lose meine Zimmernummer geschrieben. Sie haben mir gefallen, und ich habe sie keiner anderen gegönnt.

– – – – – Happy End – – – – –

 

 

 

„Berlin Friedrichshain“ Schlusskapitel 77

– LXXVII –

Ach, mach‘ es mir doch nicht so schwer, du aufgeräumte Trümmerwüste Berlin, dachte Rudolf beim Aufwachen, jetzt scheint auch noch blendend diese ungerührte Sonne wieder einmal wie nichtsahnend auf Schuldige und Unschuldige. Berlin, ich muß dich lassen, verlassen, loslassen. Und ist noch nicht einmal traurig, dieser Rudolf, dieses bücherlesende, mit Hebeln und Zahnrädern tüftelnde, Gedichte schreibende, vertrauensvolle große Kind mit den neugierigen, schlanken, zärtlichen, doch allzuleicht, allzuschnell zögernden Händen. War er vielleicht doch ein überdurchschnittliches Durchschnittsmonster? Oder war er einfach ein untypischer Typus? Springt jetzt aber entschlossen von der traumharten Couch, legt artig die Steppdecke zusammen und tappt ins Badezimmer.

Nachdenklichkeit beim Frühstück. Kaum noch Fragen der vaterseits angeheirateten Tante, weit voraus schon sind die Gedanken, weit voraus.

Das Telefon ruft die Taxe (vornehm geht die Welt zugrunde). Die Taxe bringt den dunkelblauen Kofferklotz mit seinem Besitzer (omnia mea mecum porto) schnurstracks nach Tempelhof, aufs ebenfalls aufgeräumte Schlachtfeld der letzten großen Berlin-Krise, dorthin also, wo monatelang die alliierten Rosinenbomber landeten, die im kollektiven Bewußtsein der Berliner die vorangegangenen Erlebnisse aller mit der ganz anderen Bomberspezies wenn nicht tilgten, so doch brauchbar und lebbar übertünschten. Die alte berliner Taxe mit dem umlaufenden schwarz-weiß-karierten Signalstreifen, wie ein schönes Bild aus Remarks Roman, verdammt, wie hieß der denn noch, worin sich die beiden Veteranen des ersten Krieges mit Hilfe einer halblegalen Taxe durch die Inflationszeit trixen?, komm nicht drauf, macht sicher die innere, außen nicht gezeigte Aufregung; diese Romantaxe schaukelt freundlich in den Kurven. Wie im Filmstudio, denkt Rudolf, wo die Taxenattrappe auf dem Bock ruht und von einem Atelierarbeiter am Balken rhythmisch geschaukelt wird. Wer zahlen kann, den schaukelt man.

Die Taxe hält vor dem Eingang des adolfinischen Monumentalbaus. Keine sichtbaren Bombenschäden. Die Zufälle des Bombenkrieges sind eben wundersam, wie schon oft angemerkt werde mußte. Dort drüben, die kleine zierliche Person, zwischen zwei Säulen wartend, ist Rudolfs Mutter. Damit hatte er rechnen müssen, daß sie vor ihm da sein würde. Arme Leute müssen sauber und pünktlich sein, hieß ihre Maxime; es war die auch von Rudolf verinnerlichte Familienmotivation. Hatte es doch der Opa schon immer so gehalten. Rudolf zahlte den am Taxameter angezeigten Betrag, schwach aufgerundet, Westgeld war bei ihm knapp. Er griff aber entschieden und entschlossen in die Tasche, lehrte sie aus und ließ alles Gefundene in die offene Hand des verblüfften Taxifahrers gleiten. „Hier“, ich brauche kein Ostgeld mehr.“ Der alte Mann in der abgeschabten Lederjacke beschaute sich das Aluminiumhäufchen und meinte einfühlsam; „Na, det sieht ja verdammt nach ewigem Abschied aus.“ Rudolf nickte zögernd: „Wer weiß, wer weiß.“

Rudolf nahm seine Mutter in den Arm, schaute ihr ins Gesicht: Sie hatte verheulte Augen, lächelte aber. „Wartest du schon lange?“, fragte er höflich und verlegen, doch sie winkte ab: „Kennst mich doch.“

Die große Uhr mahnte, es war nicht mehr viel Zeit. Sie gingen beide noch gemeinsam zum Abfertigungsschalter der Panam. Der Koffer war – wie erwartet – zu schwer. Rudolf mußte zuzahlen. Das Westgeld schmolz in der Julisonne. An der Sperre war Trennung angesagt. In die Abflughalle durfte nur, wer ein Ticket und einen Interzonenpaß vorzeigen konnte. Den schweren Koffer war er schon los, der wurde verladen. Eine letzte Umarmung, ein letzter Händedruck, ein Wangenkuß: „Schreib‘ bloß regelmäßig.“ Sie schaute ihn mit den dunklen Augen an, die einmal seinen Vater betört hatten, den Zigeuneraugen, aber ihr Blick hatte die gewohnte Mischung aus Prüfung und Skepsis.

Rudolf ging mit der Gruppe der anderen für Frankfurt aufgerufenen Passagiere durch die Halle hinaus in die Sonne. Die abflugbereite Maschine stand unweit des riesigen freitragenden Hallendaches auf dem Vorfeld. Es war eine Superconstellation, die mit dem Delphinrumpf und dem dreifachen Seitenleitwerk, unverwechselbar. Ihr Name war „Ciel de Provence“

Rudolf war noch nie zuvor geflogen. Da er keine Wahl hatte, hatte er auch keine Angst. Leben ist Risiko, im Krieg hatte er es verinnerlicht. Oben an der offenen Schwenktür, am Ende der unerwartet hohen, herangefahrenen Treppe, der Gangway auf Neudeutsch, stand lächelnd die schmucke Stewardeß. Ein gut gekleideter Macker, der zugegebenermaßen wie ein Herr aussah, bekam den Fensterplatz. Rudolf setzte sich neben ihn. Der Nachbar schaute freundlich-unverbindlich, sagte Guten Tag und redete glücklicherweise nicht. Man saß in Flugrichtung links. Rudolf beugte sich vor, schaute durch das kleine Fenster, man sah nur Weite. Die Ohren registrierten jedes unbekannte Geräusch. Der Zugang wurde verschlossen und verriegelt, die Treppe weggefahren. Die Motoren liefen an, und der Magen zog sich spürbar zusammen. Unmerklich rollte die „Ciel de Provence“ an, ein paar leichte Schwenks, sie stand bereit, vor sich, schier bis an den Horizont, die unendliche Betonpiste. Die Motoren liefen hoch, die verblüfften Ohren meldeten: Das also ist er, der machtvolle Ton vierfacher Kraft und Entschlossenheit. Und es ist der Moment, der Frömmigkeit gebiert: Gott befohlen!

Der Delphin stürzte sich nach vorn, die Schnelligkeit überbot sich von Sekunde zu Sekunde und dann – im Grunde unglaublich, aber tatsächlich: schau nach unten, wir fliegen schon. Alles wird kleiner und kleiner. Rudolf dachte an die kleine zierliche Person, die jetzt neben dem U-Bahn-Eingang stand, mit beiden Händen ihre Handtasche umklammerte, nach oben schaute und weinte. Rudolf beugte sich noch einmal vor, schaute aus dem Fenster, sah den Ciel de Berlin, den Himmel der Heimat, herrlich blau mit weißen Wolkenballen, die sahen aus wie Hortensiendolden, die Lieblingsblumen der Großmutter Marie Anders.

–  ENDE  –

P.S. Die Fernsehpfarrerin Elisabeth – dies sollte man nachtragen, der Vollständigkeit halber, – hat sich bei Rudolf Anders leider nicht mehr gemeldet. Rudolf hat dies anfangs sehr bedauert, denn am liebsten hätte er doch ihr seine Geschichte erzählt. So aber ist Rudolfs Uhl erfreulicherweise unsere Nachtigall, weil Rudolfs vielbeschäftigte, also rundum entschuldigte Elisa, sich diese Geschichte vielleicht geduldig angehört hätte, wir aber – Aufschreiber und Leser – hätten sie dann niemals erfahren. Als der Aufschreiber versuchsweise ein gebundenes Manuskript als Wertpaket der Post nach Köln anvertraute, kam es zurück mit dem lapidaren Vermerk: Annahme verweigert. Ich habe dem Rudolf diese Eigenmächtigkeit nicht gebeichtet. Sonst hätte er sich wohl wirklich gekränkt.

fini

„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 76

– LXXVI –

Ach Rudolf, laß sie doch fahren, die geträumte Kindheit, laß sie verwehen, wehen wie die Gardinen in deinem Rücken, der Nachtwind läßt sie schweben, wie die Wahrheit schwebt und webt, die Wahrheit dieses Zimmers, hinter deinem Rücken, hier wurde sie gesagt, angedeutet wurde sie, du hast sie sogleich erkannt, als sie andeutungsweise deutlich wurde, überdeutlich im Erschrecken, nicht wahr, sie durfte nicht sein, diese Wahrheit. Du hattest dich einfach umgedreht, nun hast du sie im Rücken, diese Wahrheit. Das Zimmer wirst du morgen zurücklassen, die Wahrheit aber, diese angedeutete unglaubliche Wahrheit, die mußt du mitnehmen, sie wird immer bei dir sein, hinter dir, in dir, mit dir. Jeder hat seine Wahrheit in sich, hinter sich, sie wird gebraucht, aber nicht benötigt. Einem Teil dieser Wahrheit fährst du nun sogar entgegen, nein, du fliegst ja, fliegst ihr entgegen. Ob sie sich zeigen wird, deutlich werden, steht noch in den Sternen, in deinen Sternen. Ein Steinbock bist du, Aszendent Wassermann, den Widder im dritten Haus, dem Haus der großen Ereignisse. Achte auf den Schützen! Der neigt wirklich dazu, sich lächelnd von seinen Pfeilen zu trennen, damit zu verletzen. Traue dem Schützen nicht, er ist allzu klug und mit Bedacht unbedenklich, frage deine Mutter, frage sie, morgen Vormittag auf dem Flugplatz, sie kennt ihn, den Schützen, ist selber bedenklich getroffen und unheilbar verletzt, einen seiner ersten jugendkecken Pfeile immer noch zitternd im bebenden Herzen. Hüte dich vor diesem Schützen. Frage sie, es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Gelegenheit.

Und er bestieg träumend den vor Reiseeifer bebenden Rappen, den kohlrabenschwarzen, den mit der blutroten Satteldecke und dem Sattel, dem spanischen, aus Cordoba, der maurischen Metropole Andalusiens am Guadalquivir, wo die sechzehnbogige Brücke den trägwilden Fluß in seinem Sandbett überwindet. So machte er sich auf seinen Weg, den niemand kennt und alle gehen müssen, wenn lachend nicht, so doch wenigstens voll der lächelnden Hoffnung, daß sich öffnen mögen die Tore der Einsicht, Erkenntnis, Erfüllung und Bescheidung, nachdem es gelungen, einzudringen in den großen Saal mit den gedruckten, bedrückend-beflügelnden Schätzen, auf deren Entzifferung wartend dieses fünffach, quadratisch geschachtelte Spruchgeheimnis vom Verursacher, dem Grund legenden, der da festhält Wechsel und Dauer in der Unbeständigkeit: Sator-Rotas in Ewigkeit. Möge es so sein: Es sei so!

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 75

– LXXV –

Auf einer Couch schlafen heißt unruhig schlafen. Die verrutschte Steppdecke läßt den Zug vom Fenster über den Rücken streichen, es zieht auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo Rudolf auf den nächsten Zug nach Ostkreuz wartet. Der Novemberwind pfeift durch das blanke Stahlskelett der Hallenkonstruktion, noch sind nicht alle vom Bombenkrieg davongewehten Scheiben wieder drin, noch fahren die Züge in allzu großen Abständen. Rudolf geht mit festen, stapfenden Schritten hin und her, geht hinaus bis ans Bahnsteigende, wo der Bahnsteig schmaler wird und die beiden S-Bahngleise zusammenlaufend sich in der langen Linkskurve Richtung Lehrter Bahnhof verlieren. Er betrachtet unauffällig die Leute, sie frieren wie er, und die meisten sehen erbärmlich aus wie er. Der Herr dort drüben nicht. Er schaut zwar verkniffen, die Augen sind wie zugewachsen, so schwer hängen die Lider herunter, seine Wangen auch, der faltige Hals verschwindet in einem dicken, mehrmals herumgewundenen Schal. Der Herr trägt einen Pelz. Es ist ein Herr, und Rudolf kennt ihn, bloß woher? Als Rudolf aufwacht, weil die Blase drückt, weiß er es sofort. Es war Aribert Wäscher. Der stand dort frierend auf dem Bahnsteig, trampelte ebenfalls hin und her im vergeblichen Wunsch nach warmen Füßen und schaute finster in die Welt. Er hatte das Desaster also auch überlebt. Seinen Namen hatte Rudolf noch in keiner Zeitung wieder gelesen. Ob er Nazi gewesen war? Wer Jude ist, bestimme ich, hatte der dicke Herrmann herrisch gesagt und es bitterbös gemeint. Wer Nazi war oder nicht, hatten die Amis sortiert, mit einem Netz aus seltsam unregelmäßigen Maschen: Viele stramme Fische schlüpften dort hindurch, und manch kleiner Stichling verfing sich in diesem Schuldnetz willkürlicher Betrachtung und Interpretation auf für ihn unheilvolle Weise. Aber die Juden waren doch auch nicht der Gerechtigkeit sondern der borniertesten Willkür zum Opfer gefallen. Wäschers Kollege Veit Harlan war in diesem Netz hängengeblieben, fast wie ein Sündenbock, denn wer wollte bei einem Schauspieler, also bei einem professionellen Chamäleon, mit Gewißheit sagen, er sei ein Hecht oder ein Stichling? In allen Berufssparten ging es so regellos geregelt zu: In Adenauers Kanzleramt saß ein Rechtsexperte, der offensichtlich unverzichtbar war: Globke, für Rudolf ein Niemand. Die sogenannte Entnazifizierung bot unendlichen Stoff zum freundlichen oder unfreundlichen Beinstellen. Es menschelte allerorten, und das Volk hielt sich an den Volksmund, der da sagt, es werde immer nur die Kleinen gehängt. Die paar Ausnahmen in Nürnberg bestätigten nur die Regel. Die zur Siegernation erklärten Franzosen hatten da mehr á la 1789 folgende reagiert: Kopf ab, Haare runter, an die Wand, rund dreißgtausendmal, ohne Gerichtsverhandlung oder sonstige formale Umwegigkeiten. Rechtsstaatlich war das selbstverständlich nicht. Geschätzte Unrechtsquote fünfzig Prozent. Auch nicht zufriedenstellend, aber in der harten Praxis des Zusammenlebens offensichtlich irgendwie befriedigend, also Frieden stiftend. Die welchen Nachbarn hatten ihre schillernde Vergangenheit mit Brachialgewalt bewältigt (die Sprache macht es deutlich). Wir werden es mit oberflächlicher rechtlicher, oder genauer: juristischer Akkuratesse und unendlich zögernder Bedachtsamkeit und Bedächtigkeit versuchen. Tu es oder laß es, gehängt wirst du doch im Namen deiner Überzeugung. Rudolf fror, wickelte sie wie eine Wurst in seine Decke und schlief wieder ein

Unvergeßlich und unzerstört der Märchenbrunnen hinter dem Friedrichshain. Der Bunkerbau im Friedrichshain hatte ihn links liegen lassen. So porös wie der Tuffstein aussah, so standfest hat er sich gezeigt. Vom großen Arkadenbogen ausgehend und in Stufen abfallend Becken nach Becken die rieselnde, raunende Märchenwelt der Gebrüder Grimm in formsamen Stein. Am Ende war man am Königstor, man drehte sich um, sah Rotkäppchen, den Froschkönig, das Gänseliesl, und vorbeirauschte die Straßenbahn Linie eins Richtung Alexanderplatz. Dem Märchenbrunnen gegenüber lag der Lunapark, ein stationärer Rummelplatz mit festen Buden und Dauerattraktionen. In der Mitte das große barocke Karussell mit großartigen wirklich schaukelnden Pferden, muschelartigen, samtgepolsterten Kuschelwippen und tückischen Drehkreiseln, die man selbst bis zum Gehtnichtmehr beschleunigen konnte (oh scheußliche Grenze der Belastbarkeit der Magennerven und deren peinliche Folge), Wurschtstände, Schießbuden, das Große-Los mit unwahrscheinlich großen ausgestopften Plüschtieren als fast unerreichbare Erste Preise, Haut-den-Lukas für Muskelmänner oder solche, die sich dafür hielten und die etwaige Blamage nicht scheuten, ein Ringerzelt und eine Würfelbude, die Riesenschaukel mit Überschlag nicht zu vergessen.

Großmutter Anders, in Wickelschürze und mit den unvermeidlichen Pantoffeln zog ihren Enkel Rudolf unnachsichtlich durch die Wunderfiguren des Märchenbrunnens hindurch, seine Hand nicht loslassend. In einer Tüte hatten sie Brote dabei, Schmalzbrote mit grober Blutwurst, die waren gedacht für die Pause in der Ringerbude, wo die Zweizentnergestalten der Bierkutscher, nebenberuflich, ihre (Schau)Kämpfe austrugen, griechisch-römisch und Freistil. Zuvor aber, zuvor mußte Marie Anders würfeln.

Der Macker in der Würfelbude hatte eine grüne Schürze um, ein Pseudo-Croupier, und immer ein mürrisches, beleidigtes Gesicht. Sah er Rudolfs Großmutter, die Marie, erstarrte er vollends, gab sich einen Ruck und sagte scheißfreundlich: „Na, Mariechen, willstet wida mal vasuchen?“ Mariechen beachtete ihn überhaupt nicht und griff wortlos nach einem der bereitliegenden Lederbecher mit den drei Würfeln.

Die Bude war nicht tief, aber breit. Links standen die großen Blumenstöcke, Hortensien in allen Farben und blütenfüllige Fuchsien und Azaleen, rechts hingen die unterarmdicken geräucherten Aale, alles erste Preise für den, der es vermochte oder dem es gelang, mit einem Wurf achtzehn zu würfeln. Auf den Regalen im Hintergrund stand der Ramsch für alle die weniger geworfenen Augen.

Marie Anders legte ihre linke Hand auf die Öffnung des Lederbechers, den sie mit ihrer rechten am überwendlich vernähten Boden umfaßt hielt. Sie schüttelte, nicht zu lange, nicht zu wenig, mit konzentriertem, nach innen gerichtetem Blick, und dann knallte sie den ledernen Becher mit einer unnachahmlichen, abrupten Neunziggradschwenkung nach unten auf die feste Platte des Budentisches. Eine knappe Sekunde professionellen Zögerns – in der sie vielleicht mit den wankelmütigen Göttern des Würfelspiels rang, haderte oder geheime Zwiesprache hielt, – dann wurde der Becher gelüftet: drei fünfen, das langte ihr nicht, bei weitem nicht, da konnte der Grünbeschürzte sagen, was er wollte: „Fuffzehn, doll, dafor jibs ne herrliche blaue Kristallvase, oder hier, drei Frühstücksbrettchen.“ Mariechen beachtete ihn nicht. Sie klaubte ihre Würfel zusammen, tat sie in den Becher, Hand drauf, Schütteln, peng, Zögern, und nach dem Aufdecken das verhaltene Siegerlächeln: Achtzehn!

Nun wurde sie leutselig: „Wat soll ickn nehm?, und: „Sind die Aale ooch frisch?“ Der Macker war beleidigt: „Mensch, Mariechen, det weeßte doch, bei mir allet erste Wahl.“ Marie Anders aß leidenschaftlich gerne fetten geräucherten Aal, aber sie fügte sich der Wirklichkeit: Sie wog zweihundert Pfund und nahm die Blumen.

Nun ging es zu den Ringern. Das Ringerzelt grenzte an der Frontseite an eine beträchtlich hohe Holzwand, oben orientalisch geformt mit Zacken, Giebeln und symbolischen Minaretten, bemalt mit wilden Ringerposen. Rechts war der Eingangsbogen, vorhangverschlossen, den Blick ins Innere der Arena verbergend, links daneben über die gesamte Front hinlaufend eine schmale Balustrade mit durchgehender Sitzbank. Wenn hier niemand saß, dann hörte man aus dem Zelt das Aufklatschen der Körper auf die Matte und das anfeuernde Gröhlen der Besucher. War die eine Vorstellung beendet, kam zuerst der Direktor als Ausrufer auf die Balustrade, gekleidet mit grünem oder rotem Glitzerfrack, Zylinder und Riesenfliege, und pries in stereotypen Superlativen die Vorzüge seiner Truppe an. Inzwischen verschnauften die müden Kämpfer hinter der Bühne ein wenig, aber dann: Mit den Klängen des Gladiatorenmarsches kamen sie heraus und nach oben. Jeder wurde einzeln vorgestellt, man verbeugte sich, ließ die Muskeln spielen, lächelte oder schaute grimmig, je nach Temperament oder der vom Direktor zugewiesenen Rolle (Herkules, Goliath oder Bösewicht). Man hieß in Wirklichkeit natürlich einfach Walter Bremer, Josef Breitmann oder (farbiger) der Tiger, der Bomber oder – mit entsprechender Trikotfarbe – der Rote Teufel. Die Leute hörten alles gern, sie klatschten und: Sie kannten ihre Pappenheimer, Die Kerle fuhren schließlich für jeden sichtbar täglich mit ihren Pferdefuhrwerken, bespannt mit strammen, schweren Belgischen Kaltblütern, das Bier aus für Bötzow, für Schultheiß-Patzenhofer oder für Berliner Kindl. So wie sie täglich die schweren Fässer stemmten, so stemmten sie hier einander und versuchten, den anderen nach allen Regeln der Kunst aufs Kreuz zu legen, mit viel Augenzwinkern, aber – und darin lag der Reiz für den Kenner – wenn sie wegen irgendeiner Kleinigkeit die Wut packte, wenn ein perfider Zwischenruf sie an der Ehre packte, dann ging’s rund.

Diese Atmosphäre stand bei Marie Anders hoch in Kurs. Mit einer fünfkugeligen Hortensie im Arm stand sie vor der Balustrade und betrachtete sich kritisch und fachlich kompetent die ausgestellten Fleischberge und Muskelpakete. War ein Unbekannter dabei, was vorkam und gern gesehen war, einer der als Fahrender extra laut angekündigt worden war, dann stieg das Erwartungsthermometer. Sie schaute sich nach Rudolf um, der inzwischen für zwanzig Pfennige mal auf dem Karussell seine Runden drehte. Zwei Karten gelöst, und dann hinein ins Vergnügen. Drinnen wurden die Blutwurstbrote ausgepackt, und dann konnte es losgehen.

Es waren Schaukämpfe, gewiß, aber es waren Könner am Werke, Wenn sie da in ihrer Ringecke standen, beide Arme seitlich ausgestreckt, auf den Seilen ruhend, verhaltene Kraft, nicht vermutete Eleganz der Bewegungen und vor allem Schnelligkeit ahnen lassend, im roten oder schwarzen Trikot, den Kopf mit gesenkter Stirn nach vorn gebeugt, drohend dem Gegner entgegen, dann mußte man denken, gleich bricht der Sturm los. Der Direktor, jetzt ohne Frack, sportlich, sagte an: „Der Tiger aus Bamberg, vierundneunzig Kilo, in diesem Jahr noch unbesiegt, gegen den Berliner Meister Walter Bremer, achtundneunzig Kilo; sechs Runden griechisch-römisch; der Sieger tritt nachher an gegen das Monster aus der Pfalz.“

Der Ringrichter trat zurück: Ring frei!, der Gong, ab ging die Post. Beide Kämpen stürzten in die Mitte, manchmal ging alles blitzschnell, ein Untergriff, schneller Heber, halbe Drehung und rums knallte da einer mit bangemachendem Geräusch auf die Matte. Der Werfer stürzte auf ihn, hielt ihn drei Sekunden mit beiden Schultern eisern am Boden: Aus! Aber dies war selten, die Leute wollten auch mehr sehen für ihr Geld. Das Umschleichen, das Packenwollen und Nicht-packen-können, das Auf-der-Matte-Landen und dann blitzartig wieder davongleiten oder sich-auf-den-Bauch-drehen, es gab genug zu sehen, zu staunen und zu klatschen.

Oma Anders schaute zu wie ein Kind. Ihre Augen strahlten, sie biß ins Schmalzbrot und konnte ganz rabiat dazwischenrufen: „Mach ihn alle, den fetten Sack!“

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 74

– LXXIV –

Rudolf war viel zu nervös, mehr angeregt als aufgeregt, einfach so dazusitzen und das Vergehen dieses seines letzten Tages in Berlin untätig geschehen zu lassen. Ruhen konnte er nicht, folglich wollte er, der gängigen Floskel entsprechend, tausend Schritte tun. Hinter sich den riesigen grauen Gebäudeklotz des ehemaligen Reichsversicherungsamtes, vor sich den Landwehrkanal, überlegte er, rechts oder links. Von links war er vor gut einer Stunde mit seinem Koffertrumm gekommen, also nach rechts, Richtung Shellhochhaus mit seiner markanten „ondulierten“ Fassade. Auch ein Wunder, daß die Bomben dieses architektonische Unikum und Unikat nicht erwischt hatten. Jetzt steht es gewiß unter Denkmalschutz, dieser berühmte Fahrenkampbau von 1932, ein immer noch modernes Bürohochhaus mit sage und schreibe gestaffelt bis zu zehn Stockwerken. Rudolf schwenkte nochmals rechts herum und ging bedächtig die ehemalige Bendlerstraße entlang, die schnurstracks nach Norden führte, zum sogenannten Bendlerblock, dem ehemaligen Oberkommando der Wehrmacht und vormaligem Reichmarinehauptamt. Das Gebiet war geschichtsträchtig. Wenn Rudolf seine Augen schloß, sah er die Panzerspähwagen der SS und die grauen Gestalten mit den schwarzen Kragenspiegeln, die das gesamte Gelände abgeriegelt hatten, als sicher war, das A.H., der größte Feldherr aller Zeiten (Gröfaz) die Wucht der Stauffenbergbombe überlebt hatte, schockiert zwar, aber überlebt. Der quicke Goebbels hatte sich nicht bluffen lassen, hatte den Major Rehmer die Stimme des fast unversehrten Meisters deutscher Maßlosigkeit am Telefon lauschen lassen, hatte ihn dann mit Generalvollmacht ausgestattet und losgeschickt, zum Rundfunkhaus in die Masurenallee, dem völlig unverständlicherweise noch unbesetzten (man fast sich an den Kopf über die technische Naivität des uniformierten deutschen Kampfadels), und an alle übrigen strategischen Schlüsselplätze, aber die SS machte aus dem Bendlerblock die Mausefalle des Preußentums. Hier vollzog sich – ziemlich diszipliniert, doch mit antiker Wucht – der dramatische Abgang des letzten Anstands der Deutschen Wehrmacht. Als sie endlich gehandelt hatten, die einzigen, die überhaupt dazu in der Lage waren, da war es schon zu spät, viel zu spät, taktisch und historisch. Aufopferung kann man nicht befehlen. Jeder Mensch ist dazu aus Gründen der Vernunft, aus Gründen des rationalen Kalküls, zu feige. Auch einem Soldaten kann man nicht befehlen: geh‘ hin und schieß den Adolf Hitler tot. Wer aber den Tyrannen töten will, welchen auch immer, der darf nicht hinterher, wenn die Tat geschehen ist, dabei sein wollen, wenn weiterregiert wird nach hehren Maximen. Man läßt es, oder man tut es: Pistole raus und weg mit dem Kerl! Solange man noch ehrenhalber die Pistole tragen durfte im Beisein des Führers. Schießen und sterben, tertium non datur. Und Friedrich der Große hätte verächtlich gesagt: Ein Hundsfott, wer als preußischer Offizier dann daneben schießt. Revolutionen kann man nur unehrenhaft planen und ausführen. Wer weiter will, muß darauf bauen, daß sein Erfolg die Ehre der Überlebenden (und damit seine eigene) neu begründet und wiederherstellt. Wer scheitert, muß sterben, nach dem Gesetz, nach dem er angetreten. Wie immer es dann ausgeht, der Einzelne hat unser Mitgefühl und unsere Tränen. Rudolf zuckte zusammen, als hörte er regelrecht die Schüsse des Peletons krachen: „Es lebe Deutschland!“ Dieser Wunsch des tragischen Grafen Stauffenberg ist in Erfüllung gegangen.

Die Sonne schien noch immer, doch Rudolf ging bedrückt zurück. Bloß keine großen, keine erhabenen Zeiten mehr erleben. Er dankte den Göttern, daß sie ihm Heldentum und Schande erspart hatten, und er dachte an das Wort Solons an den übermütigen König Krösus: „Niemand ist vor seinem Tode glücklich zu preisen.“

An diesem Abend ging Rudolf früh schlafen. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte keine Ahnung, was ihn im Westen erwartete. Gut, er hatte einen Brief in der Tasche, worin man ihm bei den Physikalisch-Technischen Werkstätten einen Arbeitsplatz als Versuchsmechaniker zusagte. Er konnte vorerst bei seinem Vater wohnen. Aber er hatte die Ingenieurausbildung abgebrochen. Das Würde zumindest Zeit kosten, Zeit und Umwege, denn wie sagte seine Mutter stets: „Im Leben is nüscht umsonst!“

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 73

– LXXIII –

Was man hat sagen können, war gesagt. Auf Wiedersehen, bleib‘ hübsch gesund, paß auf dich auf. Der sorgfältig reparierte Koffer, dieses vergangenheitsgetränkte Geschenk von der Oma Wenzel, der schon mehr von der Welt gesehen hatte, als Rudolf vielleicht jemals mit eigenen Augen würde staunend betrachten dürfen, dieser so klein aussehende, mittig zu öffnende dunkelblaue Kasten, an allen seinen Flächen verziert mit schmalem, umlaufendem, an den Ecken viertelkreisförmig zurückspringendem Goldstreifen, hatte seine beiden Flügeltüren längst geschlossen; er war gepackt; gepackt mit allem, was Rudolf besaß, an Kleidung, an Zeichengerät, an Feinwerkzeug, das Rudolf der Form gewordenen Präzision halber so liebte, dazu ein paar kostbare Fotografien, zusammengetragen bei den wenigen Verwandten, die ihm als Familie verblieben waren, aus ihren Sammelschachteln mit treuherzigen Bitten entlockt, und schließlich die kostbarsten, die unentbehrlichsten Bücher: Ein arg strapazierter Duden, Lehrbücher über Physik, Chemie, Mathematik, Teubners Tabellenbuch für Metallberufe, Kozers „Feinmechanische Konstruktionselemente“ (die „Bibel“ der Gauß-Schule), ein Basisbuch über darstellende Geometrie und technische Zeichenperspektiven, dazu das Schopenhauerbändchen von Rudi mit den inzwischen ziemlich vertrauten „Aphorismen“, Heines und Rilkes Gedichte und – last but not least – das immer noch unausgepackte Geschenk der Biedermeierdame, dieses in seiner rot-gold-Atlasgewebeartigen Umhüllung so leicht schwebend aussehende Heidegger-Opus „Sein und Zeit“. Die übrigen Bücher, die er sein Eigen nennen durfte, zwanzig, dreißig an der Zahl, waren längst in Westberlin, hatten diese Grenzüberschreitung unauffällig aktentaschenweise gemacht und warteten nun in der Verwandtenwohnung bei der Schwester der wiesbadener Stiefmutter darauf, ihm päckchenweise zu folgen, sobald ihm selber der innerstädtische Grenzübertritt und der interzonenpaßgesicherte Luftsprung nach Westen gelungen sein würde.

„Vergiß uns nicht“, hatte die Großmutter, als sie nach Abschluß der Packarbeit in seinem „Herrenzimmer“ dazutrat gesagt und ergänzend fragte sie, ob er noch etwas essen wolle. Er konnte gar nicht, zum essen war er bei aller äußerlichen Ruhe viel zu nervös. Ein Brötchen und einen Apfel hatte er heute morgen zum Frühstück gegessen. Es war eine der allerletzten Goldparmänen, schon arg verschrumpelt, aber schmackhaft wie eh und je, die der einzige Apfelbaum, der im Garten stand, mitten im Rosenrondell, so großmütig in jedem Spätherbst dem behutsamen Pflücker entgegenlachen ließ.

Soweit wie die Großmutter von jeder Sentimentalität entfernt war und dadurch die Trennung gottseidank gelassen nahm, so dicht hatte die Frau H. am Wasser gebaut. Sie saß heulend in der Küche und sagte in den Schluchspausen mehrmals: „Nun sind wir beide wieder allein“, und die Oma tröstete spaßhaft: „Wir sind doch zu zweit, von Alleinsein kann keine Rede sein.“

Ein Blick auf die Uhr: Es war so weit. Er wollte gegen halb zwei am Bahnhof Friedrichstraße sein, wenn – wie sorgfältig beobachtet – dort so gut wie kein Betrieb war und deshalb mit minimaler Volkspolizeianwesenheit gerechnet werden durfte. Sein ungewöhnlicher Koffer, auch weil er so sichtlich schwer zu tragen war, würde Situationsignal genug sein. Die Parole hieß schließlich, möglichst nicht auffallen.

Deshalb wollte er auch allein zur Straßenbahnhaltestelle gehen, auch wenn er dann den Koffer die Kohlisstraße entlang bis zur Ecke Uhlenhorst schleppen mußte. Frau H. hatte den klapprigen Bollerwagen vorgeschlagen, aber das würde viel zu viel Aufsehen machen. Also Jacke und Sommermantel an, zwei innige Umarmungen, dann ging Rudolf mit dem blauen Koffer an der rechten Hand die vertrauten sechs Stufen am Vorhäuschen hinab und den schmalen Weg hin zur halbhohen Gartenpforte. Noch einmal Umdrehen: Da stand seine Großmutter in der offenen Tür, die Hände zusammengenommen, sie lächelte, wie sie vier Jahre zuvor gelächelt hatte, als er sie, so völlig überraschend vor ihrer Pforte stehend, angerufen hatte. Herrgott war der Koffer schwer. Er setzte ihn kurz ab, winkte noch einmal, rief mit wackelnder Stimme: „Bleib gesund!“, nahm seine Last wieder auf und ging leicht nach rechts geneigt davon, ihr „Du auch“ schwebte verklingend hinter ihm, und er mußte an ihren eigenen Abschied denken, damals vor zweiundfünfzig Jahren in Schneidemühl. Sie wollte nach Westen, nach Berlin, ihr Leben selber, selbständig in die Hand nehmen. Nun zog er noch weiter nach Westen, nur halb freiwillig aber innerlich voll freudiger Erwartungen und unbestimmter Hoffnungen.

Die Kohlisstraße strahlte im schönsten Frühsommerlicht, der Koffer war die reinste Physiklektion: Kraft gleich Masse mal Erdbeschleunigung. Der Koffer hatte eine machtvolle Sehnsucht in Richtung Erdmittelpunkt, und Rudolf mußte schweißtreibend dagegenhalten. Als beide um die Ecke bogen, Rudolf warf einen letzten Blick auf Onkel Oskars ehemaliges Tanzlokal, die Tür zum ehemaligen Saal stand weit auf und gab den Blick frei auf des Hypothekengauners dampfende Chrom- und Nickelbäder, da kam in üblicher vertrauter Eile die Straßenbahn vom Hultschiner Damm heran, nahm ein wenig quietschend die enge Kurve zur Warteschleife und hielt gekonnt und ohne den geringsten Ruck vor dem kümmerlichen Wartehäuschen. Rudolf stieg ganz hinten ein, dann würde er in Köpenick den kürzesten Weg zur S-Bahn-Treppe haben. Hinten stand der Schaffner und half, den blauen Doppelwürfel auf den Perron zu bugsieren. „Na, junger Mann, det sieht fast nach ner Weltreise aus“, flachste er ohne spürbare Hintergedanken. Rudolf konterte gelassen: „So wild wird’s nich werden.“

Vier Stationen bis Bahnhof Köpenick. Er hatte noch seine Monatskarte, brauchte also nicht an die Fahrkartenausgabe der Reichsbahn. Auf der Mitte der Treppe, auf dem Absatz, mußte er haltmachen. Wenig Leute gingen an ihm vorbei. Als er den Zug aus Friedrichshagen heranrauschen hörte, mußte er sich ächsend beeilen. Er würde nicht in ein Abteil für Reisende mit Traglasten gehen, das hatte er sich schon vorher überlegt. Er mußte aber bis fast in die Mitte des Zuges, um in Friedrichstraße möglichst nahe an der Treppe nach unten zum Nord-Süd-Bahnsteig zu halten. Die Rolltreppe in Friedrichstraße wollte er nicht benutzen, die nahmen die meisten, oft lief sie auch nicht, und er wollte seine Ruhe.

Wer saß im Abteil? Seine Plauderflamme von der Kinoreklame Relita am Kudamm. Er staunte, sie staunte: „Wat soll’n der Koffa?“ „Weltreise hat der Straßenbahnschaffner eben getippt.“

„Na würklich, Du wirsta vaheb’n.“ „Und warum bist Du nicht im Büro um diese Zeit?“

„Ssweimal in der Woche jeht’s abend länga, da fahrick späta, wegen Programmwechsel, vastehste?“ stieß sie lieblich mit der Zunge an.

Sie kannten sich seit vier Jahren, seitdem er diese Strecke fuhr, und sie kannten sich nicht. Sie wußten nicht einmal die Namen voneinander, aber ihr Vertrauen zueinander war untrübbar, von Anfang an. Er hatte sich, von der Gaußschule kommend, Lehrter Bahnhof neben sie gesetzt, – sie kam vom Bahnhof Zoo, – hatte ein Fachbuch aufgeschlagen und darin gelesen, voller Gedanken aus der letzten Seminarstunde Notizen machend, da tönte sie zielstrebig dazwischen: „Mann, wat Sie da lesen, tät mir uff’n Magen schlagen.“ So wurde diese Freundschaft geschlossen, war sofort innig und wurde nie genutzt zu mehr als schwesterlichem/brüderlichem Flax oder zur Sorgenteilerei. Sie wußte natürlich sofort, was der Koffer sollte, und sagte tadelnd: „Mensch, von sowat haste nie nich een Ton jesagt.“ Er erzählte ihr leise, warum alles so gekommen war und jetzt so schnell gehen mußte. „Wenn ick könnte, würdick ooch“, philosophierte sie gedankenvoll, „aba mein Laden hier is’n singuläres Ereignis, den jibs nur eenmal in Deutschland, und an den habick mir vadammt jewöhnt.“

Bahnhof Friedrichstraße. Wenig Leute, keine Uniformen. „Mach’s jut, halt die Ohrn steif.“ „Danke, dito.“ Sie lächelten einander an, sie nickte. Rudolf packte seine blaue Kiste und wuchtete sie auf den Bahnsteig. Trotz der Eile und obwohl ihm der Magen flatterte, er winkte noch einmal, als der Zug anfuhr. War’n würklich nettes Meechen, dachte er, schade. Die abgewinkelte Treppe ab nach unten. Jeder Zug, der käme, wäre richtig, ob rechte oder linke Bahnsteigseite beim Aussteigen am Potsdamer Platz, das sollte ihm gleich sein. Wie erwartet waren tatsächlich kaum Leute unterwegs. Es war halb zwei, alles nach Plan. Nur weiter die Ruhe bewahren. Die vertrauten Tunnelgeräusche. Fast zwei Jahre lang war er hier zu Telefunken gefahren, dieser weltberühmten AEG-Tochter. Emil Rathenau hatte sie gemeinsam mit Siemens gegründet. Sein Sohn Walther, den berühmten Außenminister der Weimarer Republik, den besten Mann, den diese unglückliche Republik neben Stresemann hatte, den hatten Leute einer Freikorpsorganisation „auf offener Straße“ in seinem offenen Wagen erschossen. Bei der Biedermeierin hatte Rudolf dessen Werk „Zur Mechanik des Geistes“ von 1913 gelesen. Bei Telefunken residierten nun die Amerikaner. Rudolf wollte nach Westdeutschland, in Westdeutschland regiert ein Mann, der zur Zeit der Ermordung Rathenaus schon Oberbürgermeister von Köln und als Preußischer Staatsrat Präsident dieser Machtinstitution in Berlin gewesen war. Walther Rathenau, lebte er noch, wäre jetzt 83 Jahre alt. Da hätten ihn die Deutschen wohl nicht mehr regieren lassen, obgleich sie den Adenauer, der jetzt fünfundsiebzig ist, doch offensichtlich auch für unsterblich halten, und so sieht er in der Wochenschau ja auch aus. Wie lange wird der wohl regieren können und dürfen?

Potsdamer Platz. Angenehmes Halbdunkel, aber ein bißchen unheimlich. Jetzt nur nicht zur falschen Seite nach oben gehen. Halbe Treppe hinauf, verdammt, wo geht’s denn nun zur Potsdamer Straße? Im Zwischengeschoß ist es noch dunkler als auf dem Bahnsteig. Dabei war er hier doch schon oft gegangen. Schließlich wollte er zu der durch seinen Vater „angeheirateten“ Tante. Kommt alles nur von der inneren Anspannung. Ruhig bleiben, Junge. Die letzte, die richtige Treppe hinauf. Hellster Sonnenschein, die selbe Sonne wie in Köpenick und Mahlsdorf. Eine Stadt, ein Wetter, zwei politische Welten, aber Wetter läßt sich nicht teilen. Noch dreißig Meter: „You are now entering the British Sector of Berlin.“ Das walte Gott, (der Dicke, sagen die gottlosen Berliner). Eine sichtbar/unsichtbar geteilte Großstadt mitten in Deutschland und Europa. „Wenn das der Führer wüßte“.

Rudolf schleppte seinen Koffer freudig zum Landwehrkanal. An Rosa Luxemburg, die man totgeschlagen in dieses dreckige Wasser geworfen hatte, mochte er jetzt nicht denken, zumal auf dem Straßenschild „Reichpietsch Ufer“stand, der Name eines der Kieler Matrosen, die 1918 die Schnauze voll hatten vom Krieg und vom Massenschlachten in den Massenschlachten, von dem Krieg, den der jüdische Patriot so brennend gern für Deutschland und – welcheWeitsicht – für Europa gewinnen wollte, sogar nachträglich noch durch seine klug gemeinte aber schmerzliche (und mißverstandene) „Erfüllungspolitik“. Vom Lützow Ufer zum Reichpietsch Ufer: Freikorps Lützow gegen Napoleon für Deutschland; der Kieler Matrose Reichpietsch für Deutschland; der Jude Walther Rathenau für Deutschland; Rosa Luxemburg für Deutschland; und die edlen/elenden Freikorpsoffiziere des Hotel Eden gegen Rosa Luxenburg aber auch für Deutschland. Ein mörderisches Land und ein mörderisches Kanalufer, doch für Rudolf war es heute das Ziel aller Wünsche. Von hier wollte er morgen gen Westen aufbrechen, zu Adenauers Republik. Vom Matrosen Reichpietsch, von Rosa Luxemburg und ihrer Kampfgefährtin, der Reichstagsabgeordneten Clara Zetkin, die Rudolfs Großmutter aus der Sowjetunion Lenins das schöne grüne Lackkästchen mitgebracht hatte, ist man in Adenauers Republik wohl nicht sehr angetan. Ob die dort den deutsch Patrioten Walther Rathenau mögen? Klar, der war so klug, einen jüdischen Vater zu haben. Und solche engstirnigen, fanatischen Leute wie die von der Organisation Consul 1921 wird es in der neuen Republik doch wohl nicht mehr geben. Da kann man beruhigt drüber schlafen. Die Amis würden’s nicht zulassen.

Nur weil der Koffer so schwer war, wurde ihm der Weg so lang und ließ ihn beim Verschnaufen solche wenig erbaulichen Gedanken denken. Schade, schade, solche Sachen hatte man so schön und gründlich mit der Biedermeierfee besprechen können. Sie war eine in der Wolle gefärbte Altliberale, allerdings von der Sorte, für die es keine Partei gab, gibt und geben wird. Denn wenn sie bei dem Namen Naumann und Heuß noch mit großen Augen schaute beim Diskutieren, fing sie schon an zu blinzeln, wenn der Name Blücher fiel, von den Nebenleuten Dehler und Mende ganz zu schweigen, da schloß sie die Augen, seufzte und schwieg und wollte auf diesem Weg auch in Gedanken nicht weiter. Wenn er selber allerdings die Parole „Ohne mich“ nachredete, – die eigenen Familienfarben; rosa, rot, braun, schwarz, sie waren verwirrend genug – dann schimpfte sie damenhaft mit ihm: „Was soll das heißen, >ohne mich<, wenn Ihre Generation es nicht richtig anpackt, wer denn sonst?“

Die angeheiratete Tante begrüßte ihn herzlich und sagte, was alle mütterlichen Frauen sagen: „Nun wollen wir erst einmal was rechtes essen.“ Rudolf stimmte dankbar zu. Ein Brötchen und ein Apfel sind bei einem Gesamtumzug doch herzlich wenig.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 72

– LXXII –

Das Abschiednehmen und Abschiedgeben von den Lebenden war auch leichter gedacht als getan. Aber es gab Formen, Floskeln, Gesten, die überliefert waren, die jedem anerzogen waren oder die man sich abgeschaut hatte. Vor allem aber schien gewiß, dieser Abschied konnte für ewig nicht sein. Trotz aller Jugend war man zwar schon „manche Stunde ins Tal hinaus“ gezogen, aber „meiner Heimat Haus“ hatte ja für Rudolf nur im allerübertragendsten Sinne „im schönsten Wiesengrunde“ gestanden und vor allem: Es stand dort nicht mehr. Aber es lernt sich schnell: Menschen zurückzulassen ist schwerer als Häuser und Straßen zu vergessen.

Selbstverständlich sind Tränen geflossen. Tränen sind das bequemste, nachhaltigste und vor allem das überzeugendste Ab-Lösemittel. Tränen überzeugen den, der weint, und den, der sieht, daß geweint wird. Mit Tränen kann man im allgemeinen nichts falsch machen. Die Seele weiß das.

Am einfachsten war der Abschied von den Kollegen bei Siemens. In den großen Betrieben rumorte ohnehin eine gewisse, gleichwohl schwer zu benennende Unruhe. Verlagerung wichtiger Betriebsteile und Fabrikationsanlagen in den Westen, das gab es allenthalben, schwer zu erkennen, ungern zugegeben. Wenn konkret einer ging, begleiteten ihn Neid und gute Wünsche. Der Meister S. war weniger erbaut, aber er sah die Fakten, kannte die Umstände und bewahrte sein unzweifelhaftes Wohlwollen für seinen Musterschüler, dem kein Stein aus der Krone der Männlichkeit gefallen war, wenn er jahrelang bei Klangfilm die Geburtstagskinder aus der Werkstatt des morgens damit überraschte, daß er ihnen Blumen auf die Werkbank stellte, Blumen, ausgeschnitten aus roten Warnzetteln, die er in alten Regalen fand, weil sie überholt waren, dazu dann grüne schlanke Blätter aus ähnlichem Abfallpapier, und alles befestigt an Stengeln aus grünem Schaltdraht (nicht überzählig, sondern tatsächlich kostbar, abgezweigt aus der Produktion, doch es wurde verziehen, denn: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, – also auch den teuren Schaltdraht aus Kupfer – und nähme doch Schaden an seiner Arbeitnehmer- und Kollegenseele). Auch Feinmechanikerseelen brauchen Zuwendung. Das Wohlwollen des Meisters ging dem unfreiwillig und doch auch gern Davoneilenden also keineswegs verloren.

Weitaus bedenklicher war das Kopfschütteln bei den Dozenten und vor allem bei dem Seminarleiter K. der Abendklassen an der Ingenieurschule Gauß in Moabit. Das Studium wirft man nicht hin, hieß es; wenn die Ostleute Schwierigkeiten machten, dann lieber im Osten weiterstudieren als abbrechen. Wie sind ihre Chancen in Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt? Rudolf wußte es nicht. Dennoch: Hals- und Beinbruch. Danke.

Der Abschied bei der Mutter. Diesmal war es taghell, es tickte auch kein Flaksender, Luftlagemeldungen oder gar Voralarm waren auch nicht zu befürchten, dennoch, es wurde wie seinerzeit im Februar fünfundvierzig erst einmal „was richtiges“ gegessen, doch Milchreis war es wieder nicht. Mütter kann man eben nicht davon abbringen, daß ein Mann Fleisch brauche (und Klöße). Die Mutter brauchte noch nicht zu weinen, denn es war versprochen, sie durfte in Tempelhof beim Abflug bis zur Abfertigung mitkommen. Und das war erst in ein paar Tagen. (So Gott will, toi, toi, toi!).

Bei der Biedermeierdame traf Rudolf – wie gewohnt und bewährt – am frühen Samstagnachmittag ein, kurz vor Geschäftsschluß. Ihre letzten Kunden stöberten in den Regalen, einem hübschen Oberschüler, der seinen Heine zurückgebracht hatte und bei ihr vom Atta Troll schwärmte und „Deutschland. Ein Wintermärchen“ für zeitlos aktuell erklärte, dem empfahl sie für die nächste Woche, Tristram Shandy zu lesen oder den Siebenkäs; er zögerte und ging mit Stifters Nachsommer zufrieden ins Wochenende. Rudolf beglich korrekt alle seine Bücherschulden und lieferte alles bei ihr Ausgeliehene artig ab. Sie lächelte und sagte nebenbei: „Wenn Du willst, kannst Du schon nach hinten gehen.“ Rudolf hatte Teegebäck mitgebracht, aus dem Westen. Er setzte das Wasser auf, trug den Mülleimer hinaus und deckte den Tisch mit ihren beiden nicht zusammen passenden „Ming“Tassen, diese beiden hauchzarten Gebilde aus Böttcher-Gold, die wunderbarerweise alle Formen des Kriegwütens überstanden hatten.

Das erste vertraute Geräusch, das den letzten goldenen Samstag näherkommen ließ, war das zweimalige Herumdrehen des Schlüssels in der Ladentür. Die Fee dankte für das Tischdecken und ging hinüber über den Flur in ihre kleine Kammer und kam in einem kimonoartigen Hauskleid wieder. Rudolf fehlten die Worte. Die Frau lächelte zum zweiten Male und bat: „Wenn möglich, bitte keine Tränen.“ Dann legte diese über alle Maßen schöne und elegante Frau mit einer ihrer unüberbietbar eleganten und dennoch immer dezenten Bewegungen ein geschmackvoll eingewickeltes Päckchen auf den Beistelltisch und übernahm die Regie mit dem Hinweis: „Du darfst es auspacken, doch bitte erst nach dem Tee.“ Es war unschwer zu erraten, daß ES ein Buch war, fragte sich nur, was für ein Buch. Was lag näher, als an den Unteroffizier Rudolf zu denken, der Rudi genannt sein wollte, und der ihm an einem gleichermaßen bedeutsamen Wendetag, am Abend des ersten Tages des unbekannt gewordenen Friedens, ebenfalls ein Buch geschenkt hatte, seinen Schopenhauer, von Kröner, die „Aphorismen“.

Als Rudolf vorsichtig fragte, ob damit zu rechnen sei, daß sie ein wenig cembalisieren würde, schüttelte sie zu seiner Überraschung den gepflegten Kopf, erinnerte ihn an die zu vermeidende Tränengefahr und tröstete mit der überraschenden Neuigkeit: „Meine Schwester in Westberlin hat mir einen modernen Plattenspieler geschenkt! Er steht drüben in der Kammer. Du mußt ihn nur auspacken und an das Radio anschließen. Zwei von diesen neumodischen Langspielplatten habe ich auch.“

Es war wie Ostern und Pfingsten auf einen Tag. Sie holten gemeinsam den kostbaren Karton herüber. Rudolf las sorgfältig die Gebrauchsanweisung und verband Radio und Plattenspieler. Als er die erste der beiden Platten zögernd in der Hand hielt, sagte sie: „Leg‘ sie nur auf, und setz‘ Dich zu mir.“ Auf der Platte stand auf beiden Seiten Gaetano Donizetti und Wiener Staatsoper, und versprochen wurden Ouvertüren, Arien und Duette aus den Opern „Don Pasquale“ und „Der Liebestrank“. Das Schönste waren die beiden Duette „Les‘ ich in deinen Blicken“ und „Hier, nimm den Ring der Treue“. Gesungen von Tutti D’Almonte (?) und Tito Schipa. Nun war doch ein Hauch von Tränen unabweisbar. Die zweite Platte gab die „Pastorale“, die Sechste von Beethoven, mit Furtwängler und den Berliner Symphonikern. Und der Gipfel war die Ankündigung der Fee: „Lach‘ bitte nicht, in der Kochkiste steht ein Topf mit Milchreis“.

Als Rudolf sich verabschiedete, war das Buch noch unausgepackt. Die Biedermeierfee meinte abwiegelnd, er solle es nur eingepackt lassen, sie werde ihm sagen, was darin sei und warum. Wenn er drüben im Westen sei, solle er aufpassen, wann von Sartre „L’etre et le néant“ auf Deutsch erscheine, weil er ja leider nicht französisch lesen könne. Sartre sei nicht zu Unrecht in aller Munde, und ohne Heidegger, („ja den bösen Heidegger“), könne man Sartre nur halb verstehen. In dem Abschiedspäckchen sei die Erstausgabe von „Sein und Zeit“ dieses heute wegen seiner undurchschaubaren Verstrickungen in nazideutschlands unheilvolle Vergangenheitsstrukturen so arg beschimpften Großdenkers. Das Buch sei von 1927, also älter als Rudolf selber. Und abschließend sagte sie – er hielt schon ihre beiden schlanken, zarten, zärtlichen Hände fest in seinen – „Nimm es nicht als Bibel; denke an Lichtenberg, Du weißt schon, >mindestens einmal zweifeln<, aber an dieser Sprache solltest Du nicht vorbeigehen. So weit Du seinen Inhalt ablehnst oder einfach nicht annehmen kannst, so sollte Deine Ablehnung wenigstens sein Niveau haben.“

Die Biedermeierfee starb im Herbst des folgenden Jahres. Ihre Schwester hat es ihm mitgeteilt. Ihre Briefe sind Rudolfs kostbarster Besitz.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 71

– LXXI –

Der Schiffskoffer war repariert; wie sollte er bloß dieses Trumm, wenn es randvoll sein würde, unauffällig in den Westen bringen? Diesen Koffer zu packen, würde das Werk eines Abends sein. Abreisen ist immer unproblematisch. Man rafft alles zusammen, was im (Hotel)Zimmer um einen herum und in allen Behältnissen liegt, dann kann’s losgehen. In Rudolfs Fall war’s kein Hotelzimmer, sondern das sogenannte Herrenzimmer im Hause seiner Großmutter, worin er nun knapp vier Jahre glücklich und zufrieden gewohnt, geschlafen, gearbeitet, gelesen, also gelebt hatte. Er hatte sich schon prüfend, wertend, gewichtend umgeschaut, kein Problem, es würde sich machen lassen. Also Aufbruch.

Zeit zum Abschied nehmen. Mit einem schnellen Händedruck ist es da nicht getan. Erstens will man das nicht, könnte es auch gar nicht, denn wer geht, und sei sein Koffer noch so groß, er läßt immer mehr zurück, als ihm lieb ist. Und der gängige Ausdruck Abschied nehmen trifft die Sache keineswegs, denn in allen wichtigen Fällen – und alle Fälle sind wichtig, geht es doch immer um Menschen, um Gefühle, um Herzen, um hängengebliebene Zeit. Man muß sich also konzentrieren, muß sich vorbereiten, muß sich innerlich öffnen für das Abschied geben.

Am einfachsten (so schien es ihm, er war noch so jung) war es, von der Gemeinsamkeit des Lebens sich zu verabschieden, das er mit seinen Toten gelebt hatte. Sie lagen da und dort, an den verschiedensten Orten dieser Stadt oder an solchen geographischen Punkten, die einmal Front hießen. Die Toten liegen immer an der Front, wo sie die Waffen des Eigensinns strecken mußten, dort hatte allemal der dunkle Blitz eingeschlagen, den keiner allzugern beim Namen nennt. Die Toten betrübten ihn nicht. Soweit er sie geliebt hatte, nahm er ihr Bild mit, wohin immer ihn die Reise auch führen möge. Und da sie tot waren, wie schrecklich das Sterben für sie auch immer gewesen sein mochte, er konnte nichts mehr für sie tun. Marie Anders war gestorben in einem Kellergewölbe, das geschmückt war mit herrlich leuchtenden Jugendstilornamenten, vollgepumpt mit großzügig dosiertem Morphium gegen die unbeschreiblichen Schmerzen, die ihr der eigene, sich selbst zerfressende Magen dafür zumutete, daß sie ihn ein langes Leben lang mit sogenannten Kopfschmerzpulvern zuschüttete, weil ihr der eigene Kopf den gelassenen Anblick dieser Welt des sozialen Unrechts nicht gönnte, ungetröstet von allen geduldigen Worten und dem Händedruck ihrer jüngsten Tochter, die bis zum letzten Atemzug ihrer Mutter an ihrer Seite ausharrte, bitter rechtend mit Dem-da-oben, weil der nicht zuließ, das ihr Trostversuch noch ein letztes Mal ins Bewußtsein des zermarterten Kopfes dieser Marie durchdrang.

Und Karl Anders hatte man während einer kurzen Feuerpause im Kampf um den Alexanderplatz auf einem Karren aus der Gollnowstraße hinausgefahren, er lag im Fieberdelirium, hin in die überfüllten Räume des durch jahrelange Nachbarschaft vertrauten Krankenhauses Friedrichshain, hin zu den überlasteten Ärzten und Schwestern und Krankenpflegern, die im Ansturm der Kriegsereignisse nicht wußten, wo ihnen der Kopf stand, die ihn dann doch am Ende seines verzweifelten Kampfes ums Weiterleben ohne zureichende Medikamente aufgeben mußten wie so viele andere um ihn herum, mit denen sie ihn dann notgedrungen, wahrhaftig von der Not dieses alle überlieferten Formen zermalmenden Geschichtsaugenblicks gedungen und gedrungen in die schöne weiße Kalkgrube eines eilig ausgehobenen Massengrabs betten mußten.

Kurt Anders, Maries Jüngster, ihr hübsches Sorgenkind, das sich in den Zwanzigern bei Charleston und Black Bottom, die Lackschuhe auf Bierdeckeln, hüftenschwingend und mit eingeweihtem Augenzwinkern singend: „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da, …“ nicht vorstellen konnte und um keinen Preis der Welt auch nicht vorstellen wollte, er müsse einmal mit Schaftstiefeln, braun oder grau gekleidet, marschieren, für wen und wohin auch immer, marschieren, dieser Frauenliebling, Herzensbruder von Rudolfs gleichgesinnter Mutter, dieser Kurt hatte seinen Kopf in den gasbeheizbaren Backherd seiner ärmlichen Wohnung gesteckt, just in dem Augenblick, als seine junge Frau mit beiden puppenkleinen Kindern zur Schwiegermutter verreist war, als sein Arzt mit Bedauern und brutaler Offenheit einen inoperablen Geschwürkomplex im Zwölffingerdarm diagnostizierte und als gleichzeitig der schon lange gefürchtete Einberufungsbefehl ins Haus flatterte. Er war nervenstark genug, der von vielen so belächelte Hübschling, genügend Groschenstücke in den Automaten zu stecken, genug zum sterben, und die Sicherheit des Hauses nicht in Gefahr bringend. Wie er es geschafft haben mag, knieend, mit dem Kopf in diesem blechernen Kasten auszuharren, bis es keiner Hoffnung mehr bedurfte, mag sich ausmalen, wer robust genug ist.

Sein großer Bruder, Erich Anders, ein Bär von einem Mann, Glas- und Gebäudereiniger-Meister, der widerspruchslos zu den Fahnen geeilt war, seine geliebte, mit sinnlicher Fülle aber zu seinem allergrößten Bedauern leider nicht mit Kindern gesegnete Frau verlassend, um in der schmucken blauen Uniform des ambulanten Eisenbahnflaksoldaten hitzig übers großdeutsche Streckennetz sich hetzen lassen mußte, ein geduldiger Abwehrigel, der den wahllos angreifenden Bombern sein „Ich bün all hier“ – vergebens – entgegenschoß,Erich Anders war vom blinden Kriegsschicksal die schwer zu ertragende Todesform zugedacht worden, der man den unerträglich hoffnungsvollen Fachnamen „vermißt“ zugeschrieben hatte. Böse Gerüchte, er habe sich in einem stuttgarter Lazarett gewollt vertauschen lassen und lebe fröhlich kinderzeugend unter anderem Namen mit einer weitherzigen Schwäbin weiter, wollten zumindest der Ehefrau nicht als ausreichender Trost erscheinen

Das verstörendste Los, das der nachdenkende Betrachter sich ausmalen mußte, hatte sich der zweitjüngste Andersjunge, Omas Walter, aus der Kriegstrommel gezogen. Freiwillig, entschlossen und nicht umzustimmen, wie alle Zeugen übereinstimmend berichteten, Die Russen waren unaufhaltsam die Frankfurter Allee heruntergebraust, Straße um Straße, manchmal Haus um Haus, ein Racheengel, dessen Schwingen ihr Rauschen mit dem Brausen der Stalinorgeln zusammentönen ließen, die verzweifelte Verblendung eines aussichtslosen Widerstandes sprengte den U-Bahntunnel unter der Spree, Tausende soffen am Alex unten in der Linie E ab, die Stadtmitte bis zum Reichstag und bis zur Reichskanzlei war bereits unhaltbares Gelände, da läßt der Blockwalter Walter Anders Frau und Kinder im Keller zurück, vielleicht hoffend denkend, sie mögen zumindest eine hauchdünne Chance haben, er aber, der Goldfasan, er hatte gewiß keine mehr. Die Menschen hätten ihm sein braunes Protzen vielleicht verziehen, ein bißchen Zivil, ein bißchen Lügen, ein bißchen Verstecken, die Gollnowstraße war keine Haßallee, aber er wollte sich wohl selber nicht verzeihen, der braune Sohn des SPD-Vaters, der da fiebernd in seinem Keller lag, und der glücklicherweise bereits verstorbenen Roten Marie, deren gradlinige und konsequente Arbeitervergangenheit, vielleicht trieb ihn die an, jetzt, wo die Artillerie in den Straßen brüllte, wie auch immer, jeder Mensch hat schon Mühe, das eigene Handeln zu rationalisieren. Walter jedenfalls zog die Braune Schanduniform an, band sich das Koppel mit der Dienstpistole um und … verschwand Richtung Alexanderplatz, wo schon alles drunter und drüber ging, wie? kämpfend? schreiend? zerrissen? erschlagen? Armer Walter. Seine Schwester Herta meinte leise: „Er hat es zu was bringen wollen, deshalb ist er in die Partei gegangen.“.

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„Berlin Friedrichshain“ Kapitel 70

– LXX –

Noch etwas hatte der Besuch zurückgelassen, einige Exemplare einer Zeitschrift aus dem Westen, aus der britischen Zone, aus Hannover, auffallend durch den oberen roten Querbalken, die große weiße Schrift, als Aufmacher jeweils ein großes Politikerfoto über die gesamte restliche Fläche, dazu nur eine kurze prägnante Legende. Rudolf wurde sofort neugierig, war schon nach dem Lesen der ersten Seiten elektrisiert. Klare Gliederung: Deutschland, Ausland, Personalien, Sport, Wirtschaft, Theater, Kunst, Film, Musik. Er zeigte das Blatt sofort seiner Bücherfee. Sie lasen zusammen jedes Wort. Ein ambivalentes Gefühl: einerseits kam man sich dämlich vor, diese Leute schienen alles zu wissen, zum anderen gab einem die Lektüre das Gefühl, dabeigewesen zu sein. Ein nüchterner Meldungsstil, doch sagten diese Leute offensichtlich frank und frei, was sie dachten, aber nicht als Leitartikel, nee, gleich mittendrin im Text, so nach der Form: Der X macht dies, das wird dem Y überhaupt nicht gefallen. Müssen ganz junge Leute sein, die gar nicht „gebräunt“ sein können. Respekt vor den Alliierten? Keine Spur. Wenn sie so weitermachen, werden sie als Journalisten hier in Deutschland nicht alt. Andererseits, die Leute als Käufer werden das lesen wollen, aber es wird sich nicht jeder leisten können, denn eine Mark für das Wochenexemplar, bei nur 45 Mark brutto, ziemlich happig. Die Biedermeierin vereinbarte mit ihm, sich den Preis zu teilen. Sie würde das gelesene Exemplar unter der Hand an Kunden, die interessiert seien, verleihen. Gemacht. Das war die richtige Ergänzung zu dem Blatt der Amerikaner aus München: Die Neue Zeitung. Als er das den aufgeschlossenen Kollegen bei Klangfilm erzählte, war das Interesse groß, aber jeder fragte zurück: „Wie heißt denn diese Postille?“ Antwort: Der Spiegel.

Wie lange hätte dieses Leben in solchen Bahnen ungebrochen weitergehen können? Lebensmittelkarten und Bezugsscheine, Trizonesien als „Staatsform“, immer – auf der Bühne des Alliierten Kontrollrates – im Clinch mit den Russen, die Wirtschaftsverwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Bad Homburg und Bad Nauheim verwaltete den Mangel, Handlungsrahmen für den kleinen Mann war die Zigarettenwährung. Eine Chesterfield kostete am Alex zwischen zwölf und fünfzehn Reichsmark (ein junger Mann in Kaufbeuren, der durch seinen sprachgestützten Kontakt zu amerikanischen Soldaten solche Zigaretten bedeutend billiger einkaufen konnte, kaufte und verkaufte im großen Stil, schaffte sich dadurch ein kleines Vermögen und eine relative Unabhängigkeit, finanzierte sein Studium auch auf diese Weise und wurde Deutschlands progressivster Lyriker; ein anderer, ebenfalls hochintelligenter Bursche im gleichen Bayern, kungelte mit dem für sein Wohngebiet zuständigen und entsprechend mächtigen amerikanischen Bezirkskommandanten, wurde seine rechte Hand, später dort ein mächtiger Landrat, Landesminister, Bundesverteidigungsminister und Inszenator der die kommende Republik erschütternden sogenannten Spiegelaffäre), Schieber, regelmäßige Razzien, man hatte sich daran gewöhnt, kam irgendwie zurecht, doch sollte man in solchem Rahmen alt werden? Der Marshallplan und das ERP-Programm zogen zwangsläufig eine Währungsumstellung nach. Geld mit Kaufkraft mußte her. Die Amis druckten die Scheine, und der vormalige Bayerische Wirtschaftsminister, ein ziemlich unbekannter Mann namens Ludwig Ehrhard als Direktor dieser Vereinigten Wirtschaftsverwaltung schockierte Volk und Besatzer am 20. Juni 1948 mit der gleichzeitigen Verkündung von Währungsreform und der völligen Aufhebung der Zwangbewirtschaftung. Jeder bekam vierzig deutsche Mark und stand – je nach Temperament – jubelnd oder bedeppert vor den über Nacht gerammelt vollen Schaufenstern. Der Mann mit der Zigarre wurde bewundert, weltweites Echo machte ihn zum Ökonomiehelden und zur Legende. Er genoß das lächelnd und winkend, und außer den verblüfften Kommunisten traute sich niemand, den Geburtsfehler des kommenden neuen Staates beim Namen zu nennen: Alle Bürger sind gleich, doch Warenbesitzer sind gleicher. Was die Proleten in den zweieinhalb Jahren zuvor mit enggeschnalltem Gürtel erarbeitet aber nie in den Geschäften zu sehen bekommen hatten, dafür durften sie jetzt ihr gutes neues Geld hergeben, auf das fünfzehn Prozent der Bevölkerung den ersten, den wichtigsten Schritt in die neue Raffermentalität gehen und sich den uneinholbaren Vorsprung zur gesellschaftlichen Macht sichern konnten.

Der Osten zog mit zwei Tagen Verspätung nach. Im Westen gab es noch zwanzig Mark Nachschlag, der Osten tauschte den beherrschten Arbeitern und Bauern siebzig Mark um. Rudolf, der im Osten wohnte und im Westen arbeitete, bekam zehn Prozent des nächsten Wochenlohnes in Westgeld, den „Rest“ von neunzig Prozent in Ostgeld. Die Konzernmutter Siemens, deren Wille auch für die Klangfilmer Gesetz war, verfügte locker, für einige Wochen werde der zustehende Lohn nur zu achtzig Prozent ausgezahlt, und verschaffte sich auf diese Weise einen zinslosen Millionenkredit von ihren Arbeitern. Die Arbeiter, auf Empfehlung der vereinigten Betriebsräte, stimmten nachträglich „freiwillig“ zu. Wer wollte in solch einem Augenblick die Beschäftigung verlieren?

Die neuen Karten waren gemischt und verteilt, das Spiel lief. Mit atemberaubender Schnelligkeit schlüpfte der vom unbeeinflußbaren Grundgefühl der Menschen gebildete „Geist“ der Bewertung aus der Flasche des realen Verhaltens und ließ sich durch nichts und niemanden abweisen: Eins zu vier!, so lachte und weinte dieser Geist, und die Menschen in dieser Stadt Berlin schauten diesem unerbittlichen Geist der neuen Zeit ins Janusgesicht und weinten und lachten mit. Eins zu vier, so wurde künftig jeder Hammerschlag, jeder Zeichenstrich und jedes gegessene Brötchen bewertet. Die riesigen, wie feurige, fleischfressende Orchideen an allen zentralen Orten entstehenden realen Märkte, Gesundbrunnen, Wedding, Potzdamer Straße, Kantstraße, Schöneberg, Friedenau, Steglitz, sie waren die neuen Gerichtsplätze, auf denen jeder Wunsch sich durch sein Kaufverhalten selber das Urteil sprach: schuldig durch Teilhabe, der Zufall des Wohnsitzes bestimmte das Strafmaß. Beweismittel die verschiedenfarbigen Scheine im Portemonnaie. Die noch unangetastete Freizügigkeit verdeckte die unerbittliche Realität, der Osten war (noch) unsichtbar aber wirksam eingemauert.

Die großen Schachspieler zögerten mit ihren Zügen nicht lange: Währungsreform West, Währungsreform Ost, der aus der Emigration in der gastfreundlichen, deutschfreundlichen Türkei heimgekehrte Ernst Reuter, – er war dort im Exil Professor – gewandelt vom kommunistischen Saulus zum sozialdemokratischen Paulus, darf nicht gesamtberliner Bürgermeister werden, die Sowjets wollen diesen Mann als Stachel in ihrem Fleisch nicht ertragen, der gemeinsame Magistrat in der Parochialstraße zerbricht, die Folge sind zwei Magistrate, die Russen verlassen den gemeinsamen Kontrollrat, nur die Flugsicherung der ehemaligen vier Alliierten bleibt holpernd intakt, Ursachen und Wirkungen sind schon ein Matsch, von niemandem mehr auseinanderzuhalten, da sperren die verblendeten Schachspieler aus dem Osten sämtliche Land- und Wasserwege nach Westberlin. Die großen Spieler wissen nicht, daß sie nicht wissen, was sie tun. Wieder totaler Krieg, doch diesmal sagen die Berliner laut und wirklich freiwillig Nein, anders als dreiundvierzig im Sportpalast, wo die dort versammelten armen Hunde laut und unfreiwillig Ja sagen mußten. Die westalliierten Generäle bestätigen dieses in der Welt unüberhörbare Nein – „Schaut auf diese Stadt“ – und General Lucius D. Clay zeigt mit der Organisation der Luftbrücke, was möglich ist.

Der Osten sperrte Westberlin aus und kapselte sich damit selbst vom gesamtdeutschen Atemholen ab. In Berlin gab es von nun ab schrittweise alles zweifach. Einheitlich blieb nur eines: Die Wut auf die Russen und die Glorifizierung der Amerikaner. Die Amis („unsere Amis“) hatten emotional einfach die besseren Karten (und sichtlich die besseren Nerven). Hauptvorteil im nationalen Seelenhaushalt: Man brauchte nicht mehr nach hinten zu schauen und über den Zweiten Weltkrieg nachzudenken. Diesmal hatte man die richtigen Freunde, stand auf der richtigen Seite der Geschichte, wollte bei den Siegern sein, (wenn nur nicht diese verdammte Atombombe wäre).
Die überwältigenden Wahlsiege der SPD in Westberlin durfte man sich als Ostberliner leider nicht auf die eigene Fahne schreiben. Eine Baskenmütze (Reutermütze) war hierfür nur ein kläglicher Ersatz. Daß das tägliche zweimalige Kreuzen der Sektorengrenze keine manifeste politische Schizophrenie wurde, war nur der festen Anklammerung an westdeutsche Zeitschriften und Zeitungen zu verdanken. Die regelmäßige gedankliche Teilhabe am american way of life in den bequemen Parkettsesseln der westberliner Kinos schien unverzichtbar. Ostversuchungen adäquater Art gab es für Rudolf nicht. Die Vorentscheidung war durch die Arbeitsaufnahme und das Abendstudium in Westberlin schier unverrückbar gefallen. Bei den Wahlen 1950 war er einundzwanzig und durfte mitwählen. Das Wahllokal war unten in dem dreistöckigen Haus am Hultschiner Damm, dessen Anblick ihm siebenundvierzig das erste Anzeichen von Oma Wenzels Lebenswelt gegeben hatte. Gemeinsam gingen sie beide hin und betraten das Wahllokal mit der festen Absicht, die in der Westpresse gegebenen Verhaltensregeln zu beachten (Umschlag für den Stimmzettel verlangen, Wahlkabine aufsuchen, Stimmzettel mit markantem Stift ungültig machen). Obwohl Oma Wenzel die Gesichter hinter den Ausgabe- und Registriertischen und an der Urne kannte, (auch Berlin besteht aus Dörfern), bestanden sie beide auf diesen demokratischen Spielregeln: „Wir hätten gerne einen Umschlag, bitte.“ „Wenn sie darauf bestehen!“

Als sie – erleichtert – das Wahllokal verließen und auf dem breiten Bürgersteig neben den Straßenbahngleisen Richtung Kohllisstraße nach Hause gingen, sagte ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann: „Guten Tag Mutter!“ Er hatte ein SED-Abzeichen an seinem Revers. Verblüffung und Verlegenheit bei allen Beteiligten. Rudolf hatte diesen Menschen nie zuvor gesehen. Es war Willys Halbbruder, der Bruder seines Vaters. Mutter und Stiefsohn hatten sich seit dem Krach wegen des Erbteils Anfang der dreißiger Jahre nicht mehr gesehen. Rudolf kannte nicht einmal seinen Namen, (und konnte ihn auch beim Erzählen in meinem Wohnzimmer nicht erinnern). Die Großmutter fragte ihn, wie er durch den Krieg gekommen sei, was er treibe und wovon er lebe. Er war Betriebsleiter in einer Textilfabrik, Omas Branche, erzählte er, Blusenherstellung. Darüber lachten sie beide. Es ginge ihm gut, fügte er hinzu, er könne nicht klagen. „Na, das freut mich für dich.“ Man gab einander die Hand, und jeder ging seiner Wege. Sie hat ihn nicht nach Hause eingeladen.

„Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise …“ Siemens begann, bestimmte Betriebsfelder nach Westdeutschland zu verlagern. Siemensstadt trocknete langsam aus. Die so erfolgreiche Tochter Klangfilm sollte organisatorisch ins Mutterhaus zurückkehren, die Fertigungsstätten aber im Schwarzwald neu einrichten. Zunächst Gerüchte, verbunden mit den Ängsten und Überlegungen, geht man mit, soll man hierbleiben, erst das Abendstudium beenden? Mehr Fragen als Antworten. Zunächst zogen einige Klangfilmbereiche nach Siemensstadt um. Es wurde einsam in der Geneststraße. Bevor der Meister S. – der den Rudolf ja mochte – auch nach Siemensstadt ging, – der Klangfilmdirektor beschaffte ihm dort eine kleine, feine Spezialwerkstatt für Versuche, – besorgte der Meister seinem Vorzugsmechaniker eine Feinmechanikerstelle in der hellen, vorbildlichen Werkstatt für die Herstellung von Elektronenmikroskopen in Siemensstadt. Rudolf kehrte damit arbeitstechnisch heim in die wohlgeordnete Welt, die ihm von Telefunken her vertraut war. Wissenschaftlicher Leiter dieser Abteilung war Professor Ruska, ein nobler Mann. Er ließ jeden Mechaniker zu Worte kommen; jeder durfte seine Ideen und Vorstellungen unbefangen einbringen. (Ein paar Jahrzehnte später durfte er sich für seine grundlegende Erfindung mit einem seiner späteren Schüler den Nobelpreis für Physik teilen).

Rudolf kam sofort klar mit den neuen Kollegen und mit der dort herrschenden Arbeitsorganisation; („Gewerkschaftsmitglied?“, „Bin ich“, „In Ordnung“), und auch mit dem jungen, agilen Meister und seinem cleveren Vize. Nach vierzehn Tagen vertrauten sie ihm unter den großen erstaunten Augen der eingesessenen Kollegen eine nagelneue Universalfräsmaschine an, ein Prachtstück der modernen Zeit. Rudolf durfte nach der von der Herstellerfirma besorgten Aufstellung und Einweisung die Zubehörteile auspacken und prüfend in Augenschein nehmen. Nochmals die Gebrauchsanweisungen studieren und die Maschine mit der Herstellung von Bajonett-Anschlußteilen für den neuesten EM-Typ in Betrieb nehmen. Es war eine Pracht, mit solch einem Schlitten zu arbeiten. „An diese Maschine kommt mir kein anderer, nur Sie“, verfügte der Meister. Aber reine Freude währt nicht lange.

Im Osten gab es noch Lebensmittelkarten. Man kam damit aus, trotz manchen Mangels, doch der ließ sich schließlich – prinzipiell, soweit das Westgeld reichte – in Westberlin korrigieren. Einzige unumgängliche Bedingung: Monatliche Bescheinigung des Arbeitgebers. Auf der nächsten Bescheinigung stand nun aber nicht mehr Klangfilm, sondern Siemens. Dies nahm das zuständige Bezirksamt in Mahlsdorf zum Anlaß, zunächst die Großmutter einzubestellen. Alle Erläuterungen (Siemens und Klangfilm seien dasselbe) fruchteten nicht. Rudolf mußte selber vorsprechen, mit gleichem negativen Erfolg. Der Sachbearbeiter redete sich Fusseln an den Mund: Gleichrangige Arbeit gebe es im volkseigenen Betrieb AEG-Oberschöneweide, und statt der Ingenieurschule Gauß winkte gewiß auch ein Studium in Ostberlin, man fördere schließlich jeden aufstiegswilligen und bildungsfähigen Facharbeiter. Daran
solle es doch nicht liegen. Das Gespräch wurde am Ende ein im präzisen sächsisch gestelltes Ultimatum: „Isch gäbe ihnen noch änen Monat, gelle?“

Ein Glück, daß der pingelige Rudolf vor nicht langer Zeit der Großmutter ihren großen Koffer abgeschwatzt hatte. Es war eine mäßige Ausfertigung vom Typ Schrankkoffer: In der Mitte aufklappbar, mit verchromten Stangen für die Bügel, leider war die Rückwand von neugierigen Russen einmal eingetreten worden. Das hatte Rudolf fachmännisch reparieren lassen (im Osten; gegen Ware). Von Westberlin aus wurde der Vater angerufen und unterrichtet. Er bot sofort an, Rudolf könne vorerst bei ihm wohnen (er wohnte nicht mehr in Bad Nauheim, sondern in Wiesbaden und war nun Referent für Systematik des Bundeswarenverzeichnisses bei einer Bundesbehörde, denn seit 1949 gab es die Bundesrepublik, und die Vereinigte Wirtschaftsverwaltung von Trizonesien war seit zwei Jahren passé), und er wolle sich auch um den Zuzug (Familienzusammenführung) und um eine passende Arbeitsstelle und – das Wichtigste! – um einen Interzonenpaß zum Fliegen bemühen.

Es ging alles viel zu schnell, um es begreifen zu können. Immer wenn Bruno seinen Haß auf die von ihm verdammten Kommunisten artikulierte, mußte Rudolf denken, mein Gott, schlimmer als die vom Winde verwehten und in ihre Löcher gekrochenen Nazis sind die jetzigen Bonzen vielleicht auch nicht. Schlimm sind immer nur die, denen Macht anvertraut oder zugefallen ist, und die sich deshalb für Halbgötter halten und nicht mehr hinschauen und nicht mehr zuhören können. Dieser blinde Geier von einem Sachbearbeiter beim Mahlsdorfer Bezirksamt, der jetzt über ihn verfügen und ihm seinen weiteren Berufsweg vorschreiben wollte, den sollte der Teufel holen. Lieber
wollte er im Westen dumm aus der Wäsche schauen, als sich von ihm sagen zu lassen, wo er arbeiten und lernen sollte.

Der Vater reagierte wirklich prompt und gründlich und schrieb, Rudolf möge nur so bald als möglich kommen, das mit dem Zuzug sei schon erledigt, es habe ihn lediglich zwei Flaschen Asbach Uralt für einen alten Skatkumpel gekostet, der Hauptkommissar bei der politischen Sonderkommission der Kripo sei, die man dem Regierungspräsidenten zugeordnet habe. Im gleichen Hause werde auch über Familienzusammenführungen entschieden. Die kostbare Bescheinigung war seinem kurzen, knappen Brief beigefügt, mit dickem runden Amtssiegel und der Unterschrift des Regierungspräsidenten „In Vertretung“.

Der Vater hatte noch angefügt, er habe sich auch mit dem Arbeitsamt in Verbindung gesetzt, in Wiesbaden, am Boseplatz, (schließlich verstehe ich nichts von Deinem Beruf), und sie meinten dort, es werde nicht schwer halten, eine passende Arbeit zu finden. Obwohl Wiesbaden mit einschlägiger Industrie nicht eben gesegnet sei, es wäre schließlich eine Beamtenstadt. Doch die wenigen passenden Firmen, die es dort gebe, suchten durchaus gute Leute. Rudolf könne unbedenklich bei Siemens kündigen.

Der Meister bei Siemens verbarg seine Enttäuschung nicht über den so plötzlichen und unerwarteten Wechsel. Er räumte jedoch ein, jeder müsse und dürfe selbst entscheiden, was er für sich und überhaupt für das Beste halte, und fügte ehrlich hinzu: „In den Westen ginge ich auch, wenn ich könnte, aber ich habe in Spandau ein Häuschen.“ Da Rudolf nur fünf Wochen hier gearbeitet hatte, gab es keine Schwierigkeiten mit der Kündigungsfrist, aber er bekam auch kein Zeugnis, sondern nur eine Arbeitsbescheinigung. Weil er nicht ohne gute Papiere in Wiesbaden antanzen wollte, ging er zu Meister S., dem die dankbare Firma Siemens eine schmucke kleine Prüfwerkstatt mit ein paar Leuten eingerichtet hatte. Der Meister billigte seinen Weggang nicht, sorgte aber über den ehemaligen Klangfilmdirektor, der jetzt wieder zur oberen Siemens-Beamtenschaft gehörte, dafür, daß Rudolf über die letzten vier Jahre ein umfassendes und einwandfreies Klangfilm-Zeugnis ausgestellt bekam.

Am selben Tage noch war zu Hause ein Brief im Kasten, den ihm die Großmutter auf den Schreibtisch gelegt hatte. Poststempel Wiesbaden, Absender Physikalisch-Technische Werkstätten, Professor Doktor H., mit zwei kräftigen Unterschriften (Personalchef K. und Prokuristin „ppa“ Name unleserlich, Anfangsbuchstabe ebenfalls K.), man teilte mit, es sei dringend eine Stelle als Versuchsmechaniker zu besetzen, allerdings sei Eile geboten. Er meldete trotz der Kosten am nächsten Tage auf einem westberliner Postamt zwei Ferngespräche an. Dem Personalchef – einem Berliner! – teilte er mit, er käme umgehend, sobald er den Interzonenpaß habe. Den Vater unterrichtete er, die Behörden in Westberlin machten Schwierigkeiten und wollten ihm keinen Interzonenpaß bewilligen, obgleich er sich pro forma bei der Schwester von Vaters Frau in Westberlin polizeilich angemeldet habe.

Vater rief am nächsten Tag bei Siemens an (die Werkstattschreiberin pikiert: „Gespräch für Sie, aus Westdeutschland!“) und beorderte ihn zur Außenstelle seiner Behörde, die im Schloß Bellevue untergebracht sei. Die könnten vielleicht in Westberlin Druck machen. Wenn das nicht klappe, solle Rudolf zum Reichskanzlerplatz fahren. Dort sei eine englische Dienststelle. Er, der Vater, kenne von seinen Fahrten mit dem abgeschlossenen Militärzug einen Mister Th., der könne ihm dann gewiß weiterhelfen.

Also zuerst zum Schloß Bellevue. Schönes großes Schild mit Bundesadler: Bundesamt für …, Außenstelle Berlin. Der Pförtner war eher ein Butler, verbindlich und abweisend zugleich. Rudolf fühlte sich als Arbeiter. Das hier waren Beamte. Rudolf nannte den Namen, den er vom Vater wußte. Der Pförtner schickte ihn in den ersten Stock. Eine teppichbelegte Freitreppe, unglaublich. Er mußte sich zwicken, um sich klar zu machen, es hatte
tatsächlich den Zweiten Weltkrieg gegeben. Er klopfte an die schöne Kassettentür, neben der ein nüchternes Schild unter Glas in Normschrift besagte: „Referat III, Vorzimmer“. Als keine Antwort kam, trat er ein. Aktenschränke, ein Schreibtisch, abgewinkelt ein kleinerer Tisch mit Schreibmaschine, eine Continental, eingespannt ein weißer Bogen, die Typistin muß eben hier noch gesessen haben. Eine angelehnte Tür gleicher Güte zu einem zweiten Raum, leise Stimmen. Rudolf klopfte noch einmal, jetzt sagte jemand, eine Frauenstimme: „Ja was ist denn …“, Rudolf drückte die Tür auf und sagte artig: „Guten Tag.“

Es war ein schöner Raum. Ein großer Schreibtisch, sehr groß, ein Teppich, beige Stores mit Schlaufen seitlich der Fenster. Am Schreibtisch, halb angelehnt, halb auf der Kante sitzend ein elegant gekleideter Herr, in der Rechten eine Nagelfeile, die linke Hand in der typischen Haltung, Handfläche nach oben, wie man sie hält, wenn eine Nagelfeile Sinn machen soll. Vor dem Herrn zwei Damen, und zwei Ledersessel, eine Dame im Sessel sitzend, die andere auf der Lehne des anderen Sessels. Der Herr schaute ein wenig blasiert und gelangweilt, aber nicht unfreundlich, die Damen blickten eher ungehalten, offensichtlich weil ihre Plauderei unterbrochen worden war. Nachdem Rudolf den Namen des Vaters genannt hatte, leuchteten alle Gesichter verständnisvoll auf: „Ach Sie sind das“, und die ältere der beiden Damen, die im Sessel saß und sitzen geblieben war, sagte im halbfamiliären Ton, bei dem offen blieb, ob sie damit Rudolf oder die beiden anderen Herrschaften ansprach: „Ich wußte gar nicht, daß der Willy einen so großen und stattlichen Sohn hat.“ Man lächelte.

Die Damen verließen das Zimmer so, als gingen sie an ihre Arbeit, obgleich sie doch jetzt ein herrliches Plauderthema hatten. Der Herr stellte sich vor und bat Rudolf, doch bitte Platz zu nehmen. In der Sache gab es leider eine Enttäuschung. Man habe auf den Anruf des Vaters hin herumtelefoniert. Leider sei man mit der Bitte um Ausstellung eines Interzonenpasses nicht durchgedrungen. Es gebe zu viele Flüchtlinge in Westberlin, und die Behörden hier seien mißtrauisch und auch überlastet. Rudolf bedankte für die gemachte
Mühe und verabschiedete sich. Im Vorzimmer saß die Jüngere an der Schreibmaschine und bestellte „Schöne Grüße an Ihren Vater“, Rudolf dankte auch dafür.

Am Reichskanzlerplatz ein großes, graues Haus, wie eine Konzernzentrale, an dem der Krieg auch ziemlich spurlos vorübergegangen zu sein schien. Es war wohl heute sein Vorkriegserinnerungstag. Man mußte sich wundern, wie doch der größte Trümmerplatz Europas, wenn man nur richtig selektierte und sich an die passenden Adressen hielt, immer noch Stücke und Teile vom ehemaligen Hauptstadtglanz zu bieten hatte. Vielleicht hatten die Bomben auch eine seltsame, schwer erklärbare Vorliebe für östliche Arbeiterviertel gehabt. Ein Blick auf die Hausnummer: Hier war er richtig, doch vor dem Eingang stand ein Posten, der schaute ihn, den Zivilisten, neugierig an und fragte: „May I help you?“ Rudolf zeigte ihm einen Zettel mit dem Namen von Vaters Bekannten. Der Post hieß ihn warten und ging ans Telefon. Ergebnis: Rudolf sollte warten, er werde abgeholt. Was der Posten genau sagte, hatte Rudolf zwar nicht vollständig verstanden, doch der freundliche Engländer hatte sich durch gleichzeitig sprechende Gesten verständlich gemacht und ihm in seiner Wachstube einen Stuhl angeboten.

Ein Zivilist, der deutsch sprach, holte Rudolf vom Tor ab und brachte ihn über einen langen Flur in einem der oberen Stockwerke in einen nüchternen Büroraum. Die Verbindungstüren zu den benachbarten Räumen standen alle offen, man hörte ruhige, geschäftsmäßige Stimmen reden, selbstverständlich englisch. Aus den linken Nebenraum kam ein Zivilist in Vaters Alter und stellte sich vor: „Ich heiße Th.“. Er beruhigte Rudolf sofort mit der informativen Mitteilung, daß er hier den Interzonenpaß bekäme, (einen für das „alliierte Personal“, in rosa, statt den üblichen weißen). Er, der Herr Th., bekäme den Paß aber nur ausgestellt und unterschrieben, wenn Rudolf sich zuvor ein wenig mit dem zuständigen Kollegen von Sicherheitsdienst unterhalte, eine reine Formsache. Der Name des Kollegen spiele keine Rolle, Rudolf solle einfach dessen Fragen beantworten. Dann brachte er Rudolf in ein nahegelegenes anderes Zimmer, das so kahl war wie sein eigenes.

Der Kollege dort trug Uniform. Hatte Sterne auf den Schulterklappen und sprach ebenfalls deutsch, um nicht zu sagen: er berlinerte! Er wollte wissen, wo Rudolf gearbeitet hatte. Das war schnell gesagt. Er wollte weiter wissen, wo Rudolf im Osten wohne und was genau die ostberliner Behörde von ihm verlangt beziehungsweise was sie ihm als Arbeitsstelle angeboten hatte. „Und jetzt wollen sie zu ihrem Vater in die amerikanische Zone?“, genau, aber da war noch zu erklären, warum Vater und Sohn verschiedene Namen trügen. Auch dies war leicht und einfach plausibel zu machen. „Ich wünsche Ihnen eine gute Reise. Mein Vorschlag: Fliegen Sie lieber, o.k.?“ Dagegen war nichts einzuwenden. Rudolf verabschiedete sich, mußte aber warten, bis der telefonisch verständigte Mr. Th. Ihn wieder zurückholte. Der gab ihm dann den begehrten orangefarbenen Interzonenpaß mit der Aufschrift: „For british military and zivilian personal only“ und Mr. Th. Meinte lächelnd: „Das geht schon in Ordnung. Niemand wird das kontrollieren oder beanstanden. (Neun Jahre später, Rudolf war technischer Beamter mit Laufbahnprüfung bei einer Länderverwaltung und hatte sich zu einer Bundesbehörde nach Koblenz versetzen lassen, da tat sich der Controller des Abschirmdienstes bei der Routineüberprüfung des Sicherheitsstatus sehr schwer, diese einfache Geschichte nachzuvollziehen, denn sie trug nach seinem Lebensverständnis zu viele lückenlos passende Züge für ein subversives Geschehen und er murmelte nur: „Man lernt halt immer noch dazu.“

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